Wasserscheide

[88] Obwohl ich mich bei meinen Eltern zu Hause fühlte und eine Schwärmerei hatte für schwäbische Landschaft, regte sich zuweilen ein Bangen, für das ich keine andere Deutung wußte als das Wort Heimweh. Ich sehnte mich nach den Spielplätzen meiner Magdeburger Zeit, nach engen Gassen, dumpfigen Winkeln, nach dem Geruch der Elbe, der geteerten Kähne. Malte mir den Anblick aus, den die Vaterstadt darbietet, wenn man sie vom Roten Horn betrachtet. So heißt eine große Elbinsel, deren weite Grasflächen und wildnisartige Weidengebüsche uns Knaben ein Indianer-Territorium waren. Traumhaft spiegelte sich im buchtigen Gewässer das Abendrot, hinein ragte eine Pappelgruppe. Wehmütig gedachte ich meiner Großmutter, der gütig und klar blickenden Frau mit den blondweißen Locken an der Schläfe. Stellte mir ihre gemütliche Wohnung vor. Das blaue Empfangszimmer: aus dem Goldrahmengemälde überm Seidensofa blicken die Blauaugen des soldatischen Großvaters. Ein bezopfter Chinese aus Porzellan, Amoretten, Zwerge und Rokokokavaliere. Gern war ich beim Glasschrank, drin sich schmuck die Bücher reihten – poetische Taschenbücher aus der Biedermannszeit, in Schweinsleder eine Geschichte Roms, auch ein dicker Band der Fliegenden Blätter. Selbst die Leierkastenmelodien, die Magdeburgs Straßen durchgellten, dünkten mich schön, seit ich sie nicht mehr vernehmen durfte.[89] Und so war mir die alte Heimat zum verlorenen Garten Eden geworden. Ich war hinausgestoßen in die Fremde. Denn fremd, bang-fremd berührte mich die Tübinger Schule; wenn ich hin sollte, wurde mir das Herz oft schwer wie Stein. – »Auf, Junge! Schon halb Sieben! Mußt dich sehr beeilen!« Noch am Waschtisch stand ich, als unten Enzio pfiff; bald darauf rief er, er müsse gehn. Unterm Packen meines Schulranzens schlürfte ich hastig den Milchkaffee, und dann fort! Enzio war nicht mehr einzuholen.

Fast schadenfroh strahlte der Sommermorgen, als ich durch das Obstwiesenland gen Tübingen trabte. Die Sorge malte mir aus, welchen Eindruck es auf Naso und die Klasse machen würde, wenn ich nach Beginn der Schule außer Atem einträte und eine faule Ausrede stammelte. Schadenfroh würde man grinsen, Naso würde mich anstarren, als wär' ich ein Verbrecher, und meine Klassenarbeit wäre verpfuscht, die lateinische Klassenarbeit, die heute geschrieben werden sollte, und auf die so viel ankam, o je! Das Herz krampfte sich mir zusammen, ich mußte einen Augenblick verschnaufen. – Aber das prangende Gelände der Berge, die Halde mit den Weinbergshäuschen, lächelte zu meiner Not. Es war ein Leuchten ohne Stoff, ein Duft und Hauch. »Glastelfingen« – dies Wort Hainlins hallte mir durch den Sinn, und es raunte das Märchen vom heimlichen Höhendorf.

Unter den schattigen Kastanien der Landstraße war ich, nahe dem Gutleutehause, als eine Turmuhr von Tübingen erscholl: Sieben Uhr! Und wie zum Hohne wiederholten die anderen Glocken: Sieben –! sieben! Jetzt läutet der Schuldiener, kurz darauf wird Naso in die Klasse eintreten! Ich war stehn geblieben, es wankten mir die Knie. Was nun? Soll ich die Viertelstunde, die der Weg noch erfordert, weiter durchhasten?[90] Soll ich dann als armer Sünder vor Naso stehn und auch noch Spott ernten? Nein! schrie es in mir auf. Nicht zur Schule! Uli hat recht, sie ist ein Buben-Zuchthaus – ich will kein Zuchthäusler sein. Fratzen sind der Naso und der Saubock und der gesunde Menschenverstand. Ich mag nicht mehr Grammatik büffeln! Ich brenne durch! Gehe nach Amerika – wie Lenau. In Gottes freie Natur will ich.

Einen Weg, der von der Landstraße zu den Bergen führt, schlug ich ein. War an der Mündung eines Bachtälchens – schräg am Hange stieg der Pfad empor. In der sanften Landschaft fühlte ich mich geborgen – hörte den Bach drunten – hoch im Blauen einen Lerchentriller – ich atmete auf. An Obstgärten führte der Feldweg vorbei, an hochgemauerten Beeten. Da sind Bohnen, teils blühend, teils mit Schoten – Zwiebeln und Salat, Mohnstauden mit silbernen Köpfen – Gartenlauben, davor leuchten Feuerlilien, gelbe Astern. Nun kommt Haferfeld, raschelnder Mais, eine Hopfenpflanzung – um die hohen Stangen schlingen sich die großen, dunkelgrünen Blätter mit den gelblichen Blütentrauben. Brombeerhecken, auch weiße Dolden, lila Rittersporn, duftendes Labkraut. Kohlweißlinge taumeln drüber hin, Bläulinge, Pfauenaugen. Im Gras ein Flirren, Zirpen – da kriechen bunte Käfer, Grashüpfer hopfen. Hoch schrillt ein Habicht – ich blinzle hin, sehe nur weiße Wolkenballen im Blau.

Schon auf halber Höhe fesselt mich die Aussicht: Lustnau mit seinem Kirchturm, die schmucken Dorfhäuschen zwischen Gärten und Wiesen. Hinterm Oesterberg lugt die Alb hervor. Das Herz geht mir auf, und seine Ueberschwenglichkeit will Klang werden. Den Schulranzen werf' ich hin, aus einem Schulhefte reiß ich ein Blatt – die Verse von gestern abend will ich zu Rande bringen. Um besser sinnen zu können, streck' ich mich[91] ins Gras, den Ranzen unterm Kopf. Nicht weit ist meine Reimerei gediehen, als die Lage, der ich mich hingab, meine Augenlider schwer macht. Sie fallen mir zu – ich reiße sie wieder auf – blinzele und schließe sie fest. Im Apfelbaum schmettert der Buchfink: »Zie zie zieh, Melodie! mit Trillern verziert!«

Auf einmal ein sanfter Alt: »Ha! wie wär denn dees?« Ich schlage die Augen auf – Rosel Funk steht vor mir: »Schau! Ischt dees net der Bruno? Ha freili! Ond g'schlafe hat er! Aber sag mer du, warom bischt net in deiner Schul?« – »Ach, Fräulein Rosel, ich – ich ...« Zu meiner Verlegenheit lächelt sie. Mich tröstet ihr Anblick. Wie ein hochgeschossenes Maiengewächs steht sie da, straff und stolz, dabei zart und biegsam. Aus dem frischen Gesicht lächeln die Vergißmeinnicht-Augen. Ihre Blondzöpfe hat sie vor die Schultern gelegt. Wie ein Landmädchen ist sie gekleidet; aus kurzem Hemdärmel lugt der braune Arm, zum Korb erhoben, den sie auf dem Kopfe trägt.

»Also, erklär' mir, Büble!« – »Ach, Fräulein Rosel!« Ich erhebe mich beschämt – »die Schule hab ich geschwänzt. Und mag gar nicht wieder hin – verleidet ist sie mir – ich ...«

»Oha!« begütigt sie, als wär' ich ein scheues Pferd. »Ischt die Sach so arg? Folg du dem Jörg Hainlin! Jetzt aber gehscht mit mir, gelt? Zom Häusle da nauf!« – »Zum Schnützelputzhäusle?« – »Waas? Schnützel ...?« lächelt sie. – »Sie meinen doch das Weinbergshäusle? Oben, wo's nach Glastelfingen geht?« – »Wie sagscht? Glaschtel? So ebbes gibt's da net!«

»Zu finden ist Glastelfingen allerdings nicht! Es bleibt ein heimliches Dörfchen.« – »Heimlich? Wie wär denn dees?« – »Man sucht immer – man ahnt das Wunder – man sehnt sich – kann's aber nie erreichen. So meint wenigstens Herr[92] Hainlin.« Sie errötet: »Hat dr Hainlin so geschwätzt? Sieht em ähnlich, dem Träumlesjörg! Also, Büble! Auf, nach Glaschtelfinge!«

Ich nahm meinen Ranzen und ging mit Rosel. Nach etlichen Schritten kehrte sie zu der Stelle zurück und bückte sich nach dem Zettel, den ich vergessen hatte. »Waas? Versle? Tuscht scho Liebesreimle mache, du?«

Ich fühlte, wie mir das Blut zu Gesicht schoß: »Aber nein, Fräulein Rosel! Mein Gedicht handelt bloß von einem sterbenden Ulanen. Wie der blaß daliegt, einsam im Vogesengebirge, beugt sich sein Pferd über ihn. Das Bild ist in der Gartenlaube – es kommt mir so rührend vor – eine Ballade möcht' ich draus machen. Und darüber bin ich eingenickt.« Gutmütig lachte sie mir ins Gesicht: »Bischt mir e netts Dichterle! Mach's fertik! Im Häusle drobe! Aber die Schulschwänzerei muß aufhöre, gelt? Willscht e Dichter werden, na ghört sich, daß du Studentle wirscht. Der Uhland war sogar Professer!« Dieser Hinweis machte Eindruck – zu erwägen begann ich, ob ich mich nicht des weiteren zur Pennälerei bequemen solle.

Heiter zerstreuend wirkte das Gelände, das wir nun durchschritten. Schräge Wiesen – auf der Höhe ein Wald von Obstbäumen, geheimnisvoll ins Weite gedehnt. Unter den Wipfeln Rasen, Klee, manchmal Weizenfeld, ein Mohn- oder Gemüsebeet. Aus diesem Garten Eden, der von gefiederten Sängern erscholl, lauschte hin und wieder ein laubenartiges Häuschen hervor. Nun kam gemauertes Rebengelände. Zwischen den stufenförmigen Beeten führten die Steinplattensteige aufwärts. Ich freute mich der Weinblätter, zwischen denen die Trauben schwollen. »Ist das Ihr Weinberg und Ihr Häuschen?« Sie nickte lächelnd. Ein stattlicher Traubenstock umarmte den oberen Teil des Baues – durch seine Laubmassen[93] lugte die hell getünchte Mauer mit schwarzbraunem Balkenwerk. Der grüne Fensterladen geschlossen. Auf der einen Seite des Häuschens eine gemütliche Bank, überwölbt von einem Zierstrauch, um dessen Blüten ein Volk von Bienen summte.

Wie ich auf der Bank saß und schaute, offenbarte sich erst recht die Pracht der Landschaft. Gleich einem blühenden Flachsfelde blaute weithin die Alb. »Wie Schanzen sehen die Berge aus,« sagte ich – »einer ist wie ein Sarg! Aber der hohe runde Berg da vorn, wie heißt der?« – »Der Roßberg!« – »Da sind auch ein paar spitze Kegel.« – »Die Salmendinger Kapelle. Rechts der Hohenzollern. Ka'scht die zackige Türmle erkenne?«

Ich nickte – musterte auch die nähere Umgebung. Ueber Tübingens Dächer hebt sich die Stiftskirche. Auf dem Schloßberge trotzt die Burg mit den dicken Türmen. Am Ende des langgestreckten Schloßberges eine kegelförmige Höhe, auf deren Spitze ein leichter Bau schwebt. »Was ist denn da?« – »Droben stehet die Kapelle, schauet still ins Tal hinab. Dees Liedle hat der Uhland auf die Wurmlinger Kapelle gemacht.« Ich war entzückt. Welch ein romantisches Land! Ueberall sagenumwobene Burgen, Kapellen und Klöster, von Dichtern unsterblich besungen. Es war doch wohl ratsam, das Gymnasium durchzumachen, um Landpastor im Schwabenländle zu werden.

»Was will Herr Hainlin eigentlich werden?« Ein forschender Blick streifte mich: »Eigentlich? Ha – eigentlich ischt er, scheint's, e Könikskindle im Märchenreich. Aber du meinscht wohl, womit er sei Brot erwerbe soll? Gärtner möcht er werden.« – »Gärtner?« Ich stutzte – bedenkend, daß ich sein Gespräch mit dem Vater belauscht hatte. »Und Sie, Fräulein Rosel? Möchten Sie Gärtnersfrau werden?« – »I?« sagte sie.[94] – »Kennen Sie das Lied vom Wandersmann, der die Gärtnersfrau anspricht? Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau? Weinst du um der Veilchen Dunkelblau? Oder um die Rose, die du brichst? Nein, um diese Blumen wein' ich nicht.«

Rosel schien verwirrt, wohl etwas traurig. Schweigsam starrte sie nach den blauen Bergen. Leise fing sie wieder zu reden an: »Dort hinte – schau! Der letzte Berg dr Alb! Der Lochen ischt dees, da bin i zu Haus, i ond mei Jörgle, dr Herr Hainlin. Im Dörfle Thieringe, hoch am Lochestei ischt er aufgewachse. I bin oft naufgestiege mit meim Vatter, der ischt Freund gwä mit Jörgles Vatter. Kamerade sind au der Bue ond's Mädle gwä, hänt mitenander Feld ond Wald durchstreift. Auf ere sumpfigen Au drobe hat's zwei Quelle – die eine fließt gen Mitternacht zur Eyach, die andere gen Mittag zur Beera. Solchene Höh, wo sich die Bächle vonenander scheiden, nennt mer e Wasserscheid, gelt? Dees hat mir dr Jörgle erklärt. ›Schau, Rosel,‹ hat er gsagt, ›die zwei Wässerle sind beisammen entsprungen ond Spielkameraden – alsdann tun sie sich trennen – eins geht zom Neckar ond Rhei, zuletscht in die Nordsee, 's andere zur Donau, ins Schwarze Meer.‹ – Aber Jörgle! han i erwidert – die beiden Wässerle könnt mr ja durch e Gräbele verbinden, gelt? – Gut, dees hänt mr probiert. Ischt aber vergrate! Auswärts kann's Wasser ja net fließe – nimmer kommt's über die Wasserscheid – ewik getrennt bleiben drum die beiden Quellen ... Ha, Büble! tuscht jetzt begreife, warom ich nimmer glaub, daß i Jörgles Gärtnersfrau werd? Die Gärtnerei möcht er zu seim Beruf mache – i weiß wohl – er denkt, so könn er im stand sein, mich z'ernähre. Aber so Opfer derf i net ahnemme. Sei Sinn strebt nach freier Geischteswelt – die Richtung derf mr ihm net störe. Jörgle soll seinen Weg gehn – mi wird's Schicksal anders führe. So,[95] Büble! Jetzt han i mei Herz ausgschüttet. Der Heimatberg drübe hat mi derzu verlockt – ond deine Schulschwänzerei, Dichterle! Du bischt, scheint's, gleichfalls e Träumlesjörg, wo sich net füge will in die Welt da. Aber laß di verwarne, Büble, solang 's noch Zeit. Schick' dich in die Welt!« – »Ach, Fräulein Rosel! Wenn ich's doch nicht kann? Sie sprechen von Wasserscheide! Zwischen mir und den andern ist auch ne Wasserscheide – ich bin anders – ich fühle mich – sagen wir, nach Süden gezogen wie der eine Bach – andere gehn nach anderer Seite.«

Sie stutzte. Blieb indessen mit Entschiedenheit dabei: »Schick' dich in die Welt!« Und dann legte sie die Hand auf meine Schulter: »Jetzt hör aber, du! Derfscht mir kein Streich spiele ond ausbabbele, was i dir gsagt han! Hand aufs Herz ond abgemacht! Gelt du?«

Wie sie so vor mir stand, wie ihr Auge strahlte von Liebe für ihren Jörgle – zugleich von einem tiefen Geheimnis, von einem Verzichten, gütig und hoheitsvoll – kam sie mir vor wie die Glasberg-Prinzessin, die heimliche Königstochter zu Glastelfingen.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 88-96.
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