Vom abgerissenen Bändel

[96] Daß sich der römische Machthaber Antonius mit der ägyptischen Königin Kleopatra einließ, hat die Weltgeschichte erschüttert. Hätte er's nicht getan, ihr wär's nicht gelungen, ihn gegen Cäsar aufzuputschen, und dann wäre die Völkerschlacht zwischen Rom und dem griechischen Orient vermieden worden. Ein Bienenstich auf der Nase der Fürstin, eine entstellende Geschwulst hätte wohl genügt, ihn vor den Schlingen ihrer Liebespolitik zu bewahren. Jede Laune des Zufalls hat unabsehbare Folgen.

Solch eine Laune des Zufalls war's, als ich an einem freien Nachmittag zu meiner Mutter sagte: »Nun möcht ich auch mal die Burg von Tübingen besichtigen.« – »Laß dir aber erst das Bändel annähen.« Ein Gummibändchen war gemeint, das meiner Schülermütze besseren Halt auf dem Kopfe gab. Ich war zu ungeduldig, die Reparatur abzuwarten, und nun werden wir sehn, welche Schicksale sich hieraus entspinnen.

Zunächst bescherte mir der Gang zur Burg, daß ich sie in der Nähe betrachten konnte. Hinter einem gemauerten Graben, über den die Zugbrücke führt, ist das erste Burgtor. Die Steinmetzarbeit staunte ich an: Schnörkel und Fratzen – das württembergische Wappen – rechts und links steht ein Landsknecht in Lebensgröße – der eine schwingt ein gewaltiges Schwert, der andere zielt mit der Hakenbüchse. Als ich das Tor passiert hatte, ging's noch höher. Vor dem kantigen Eckturm eine knorrige[97] Linde mit einer Bank. Hinter dem zweiten Graben baut sich die eigentliche Zwingburg auf – dicke Mauern mit Schießscharten und Zinnen – eiserne Drachen speien vom Dach. Das Schloß, in die Festung eingebaut, ragt übers Gelände einer Plattform. Es hat nur ein Stockwerk mit Wohnungsfenstern. Ueber dem Tor ist wieder ein gemeißeltes Wappen, diesmal von Hirschen flankiert und zwei geharnischten Bannerträgern.

Ich kam in den Schloßhof – er ist geräumig und viereckig. Der einen Front entlang zieht sich eine Galerie. Zwischen den Steinen, die den Schloßhof bepflastern, wuchert Gras. Es plätschert aus den Rohren eines verzierten Brunnens – auf dem Rand des runden Beckens sitzt gurrend eine Taube. Durch einen dunklen Gang, der fast zu niedrig für meine Länge schien, kam ich zu einem Söllergärtchen, und hier erschien der dritte Turm, ein runder, sehr dicker – ich kannte ihn vom Titelbilde der Tübinger Zeitung. Und malte mir aus, welche Rolle er zu spielen hatte in Ulerichs Kriege mit den Städten – wie damals aus den Schießscharten die Büchsen knallten – eine feindliche Steinkugel schlug dumpf an den dicken Turm, prallte ab und polterte den Hang hinunter ...

Nein, das Poltern kam vom Gewitter, das rasch heraufzog – ich betrachtete die schwarze Wolkenwand. Mach lieber, daß du fortkommst! sagte ich mir. Ohne Verzug ging es zurück über den Schloßhof und die Grabenbrücken. Die Luft war schwül, ohne Regung. Da ich hastig gegangen war, wollte ich ein wenig verschnaufen. Bei der Schloßküferei stand ich, gefesselt vom Anblick eines üppig entwickelten Weinstocks, der ein Haus berankte. Ich freute mich über die Trauben, die reichlich daran hingen.

Da kam ein Windstoß und riß mir die Mütze ab. In die Luft gewirbelt, hing sie auf einmal im Weinlaub unter einem Fenster des ersten Stockwerks. Mir blieb nichts übrig, als in das Haus[98] zu gehen, vom Inhaber der Wohnung wollt' ich mir die Mütze ausbitten. An der Tür befand sich ein Kärtchen mit dem Namen: Bolkendorf. »Herein!« sagte eine Baßstimme. Eintretend bemerkte ich einen starken Mann, der beim Fenster an einer Malerei arbeitete. In blaues Gewölk gehüllt, das er aus langer Pfeife qualmte. Zerstreut blickte er auf – er hatte ein gutmütiges, etwas aufgeschwemmtes Gesicht, einen dicken Knebelbart, braune Künstlerlocken.

Ich bat um Entschuldigung – an der Kammerz sei meine Mütze hängen geblieben. »Kammerz? Was ist denn das?« fragte er, und ich erwiderte: »Die Wandberankung draußen.« – »Nennt man die hier so? Der Ausdruck ist mir neu. Ich bin kein Schwabe, Schlesier bin ich!« – »Mein Vater ist auch aus Schlesien,« sagte ich erfreut, – »aus Neumarkt!« – »Donnerwetter!« rief Herr Bolkendorf, »Neumarkt bei Breslau? Daher bin ich ja ebenfalls!« – Wir staunten vollends, als sich herausstellte, daß Bolkendorf als Kind den Bruder meines Vaters gekannt hatte. »Nächstens besuche ich deinen Vater,« versicherte Herr Bolkendorf.

Dann öffnete er das Fenster – die Mütze hing da, vom Regen triefend. Die langrohrige Tabakspfeife mußte Bolkendorf zu Hilfe nehmen, um die Mütze zu angeln. Da es tüchtig goß, lud mich der freundliche Herr ein, noch etwas zu bleiben. Von meiner Familie mußte ich berichten, und er sprach von seiner Lebensart. Maler sei er – auf einer Studienreise habe ihn Tübingen, Altstadt und Landschaft, derart gefesselt, daß er hier hängen geblieben sei. Er zeigte mir sein Wanderbuch mit Skizzen malerischer Stadtwinkel und überzeugte mich, daß er zu den echten Schlesiern gehöre, deren Urgemütlichkeit mein Vater rühmte.

Die Bekanntschaft mit Bolkendorf, durch den Zufall vermittelt, bildet das Anfangsglied einer Kette bedeutungsvoller[99] Begebenheiten. Hätte mich nicht das abgerissene Bändel zu Bolkendorf geführt, manches wäre anders gekommen – in seinem Schicksal, desgleichen in Hainlins und Rosels Leben, selbst in mei nem. Doch diese Dinge wollen ausführlicher dargelegt sein.


*


Als ich nach Abzug des Gewitters zu den Eltern zurückgekehrt war und mein Abenteuer erzählt hatte, freute sich mein Vater, daß außer ihm noch ein zweiter Sohn des Schlesierstädtels in Tübingen hause. Wie dann Herr Bolkendorf bei uns erschien und sich von seiner angenehmsten Seite zeigte, hatten die beiden Landsleute viel zu plaudern. In der Laube des Rosengartens saßen sie, und da mein Vater dem Gaste gern etwas Rauchbares angeboten hätte, bat er Fräulein Rosel, die gerade Gemüse begoß, aus dem Laden Zigarren zu holen. Herr Bolkendorf und Fräulein Rosel wurden einander vorgestellt – und hier begann ein wichtiges Glied in der Kette von Folgen, die der Windstoß eingeleitet hat: Wieder und wieder kam Bolkendorf zu meinem Vater, und bald hatte meine Mutter heraus, daß seine Besuche weniger aus schlesischem Patriotismus erfolgten als aus Schwärmerei für Rosel Funk.

»Warum soll er nicht?« hatte mein Vater erwidert. »Ich würde mich freuen, wenn dieser ältliche Junggeselle eine so liebe Frau fände, wie ihm die Rosel gewiß sein würde. Unser guter Hainlin hätte dann freilich das Nachsehen.« – »Ach, mit dem und der Rosel wird ohnehin nichts! Ein Mann, der keine Anstellung hat – wie könnte der ernstlich ans Heiraten denken!« – »Vielleicht bekommt er die Stelle an der Höheren Töchterschule!«

»Zunächst muß er Soldat werden. Na, und dann? Wie lange, meinst du wohl, würde er die Stelle festhalten? Solch ein Schwärmer paßt in keinen Brotberuf ... Sieh bloß, daß unser Junge nicht auf Hainlins Ueberspanntheiten kommt![100] Studieren aus bloßer Neigung – brotlose Künste darf sich nur leisten, wer das nötige Kleingeld hat. Ja Bolkendorf! der mag pinseln und in den Tag hineinträumen – der hat seine gute Rente. Das wäre ein Mann für Rosel.«

»Und ihr wär's allerdings zu gönnen, daß sie aus diesem Hause käme. Sie würde dann gewiß ihre Mutter zu sich nehmen, die wäre erlöst von ihrem Ehetyrannen. Neulich hat dieser rabiate Kerl sie wieder geschlagen – und auch heute ist wohl Krach gewesen. Wenigstens hatte Frau Kuttler, als ich vom Spaziergang kam, verweinte Augen.« – »Ja, Kuttler hat getobt. Rosel war natürlich wieder mal Stein des Anstoßes. Linda, diese Giftnudel, möchte durchaus Rosel aus dem Hause beißen. Sie hetzt den Vater auf.« – »Na ja – Stiefgeschwister!«

»Ich sage, es ist auch Eifersucht! In Hainlin ist Linda verschossen.« – »Aber sie sieht doch, daß dieser Kandidat nicht gerade als Heiratskandidat gelten kann.« – »Vater Kuttler, dieser Wucherer, hat Geld zusammengescharrt.« – »Wird er damit herausrücken?« – »Der Linda zuliebe wohl, von der läßt er sich regieren. Uebrigens mag sie sich einbilden, auch über Hainlin Macht zu gewinnen. Es ist ein dämonisches Frauenzimmer.«

»Oh, diese Kuttlerei!« seufzte mein Vater. »Die arme Frau! Wie konnte sie einen solchen Schwupper machen, den Kuttler zu heiraten! Sie soll doch etwas Geld gehabt haben.« – »Das gerade war ihr Malör – darauf war der Kerl aus!« – »So soll sie endlich energische Schritte tun, sich scheiden zu lassen!« – »Ja, wenn der Kerl einwilligen würde! Aber er läßt sie nicht aus den Klauen! Das von ihr eingebrachte Vermögen hat er auf dem Dentzenberge angelegt. Der Obstgarten soll hübsch sein, soll auch ein Wengerthäuschen haben – so hat mir die Bäckersfrau gesagt. Und dies Grundstück will Kuttler eben nicht[101] verlieren – Hopfen will er da pflanzen, hat er gesagt – das ist seine Spezialität, den weiß er geschäftlich zu verwerten.«


*


So standen die Dinge, als ich eines Nachmittags, von der Schule kommend, durch den Rosengarten ging und eben ins Haus treten wollte. Da hörte ich auf dem Flur über der Treppe heftige Männerstimmen. Gleich darauf fiel eine Gestalt polternd die Treppe herab – und da lag vor mir Herr Bolkendorf – stöhnend, zuckend, dann regungslos. Frau Kuttler, von oben herzugeeilt, war schreckensbleich, als sie sich über den anscheinend Toten beugte: »Herr Bolkendorf! Hören Sie doch! O Herrgoot! Er hat sich, scheint's ...« Verzweifelt schrie sie auf. Nun war Fräulein Rosel zur Stelle – und es kam noch meine Mutter. Mein Vater, sagte sie, sei spazierengegangen. Man spritzte Herrn Bolkendorf Wasser ins Gesicht – er kam zu sich. Aber sprechen konnte er kaum, stöhnte nur und rollte die Augen.

Weinend wandte ich mich ab, ratlos, wie hier zu helfen sei. Als aber meine Mutter sagte, ein Arzt müsse geholt werden, erbot ich mich dazu. Herr Bolkendorf, der diese Worte verstanden hatte, brachte heraus, seinen Freund solle ich holen – in der Chirurgischen Klinik sei er Assistent. Unverzüglich eilte ich nach Tübingen. Unterwegs suchte ich mir klarzumachen, wie das Unglück gekommen sei. Deutlich erinnerte ich mich, wie Bolkendorfs Baßstimme entrüstet gerufen hatte: »Was? Sie unterstehen sich, mich anzupacken?« Dann hatte Kuttler gebrüllt: »'nunter mit ihm!« Er mußte ihn also die Treppe hinuntergeworfen haben. Dieser Wüterich! Und so was will ein Jakobskindle sein! Salbadert von der Himmelsleiter, dran die Engel auf und nieder steigen!

Den Klinikassistenten fand ich, und wie er vom Unglücksfall gehört hatte, entschied er sich, den Patienten sofort mit Krankenbahre zur Klinik zu schaffen. – Wir fanden den Verunglückten[102] in derselben Lage – nur hatte man ihm ein Kissen unter den Kopf gesteckt. Aechzend schilderte er dem Assistenten, wie er unfähig sei, sich aufzurichten. Dann huben ihn die Wärter auf die Bahre und trugen ihn fort. Fräulein Rosel ging mit.

Andern Tages hatte Kuttler eine Geschäftsreise angetreten. Die Gelegenheit benutzte Frau Kuttler, ihre Habe zu packen und das Haus zu verlassen. Weinend hatte sie meiner Mutter gesagt, unter keiner Bedingung kehre sie zurück – und habe vor, die Scheidung zu betreiben.

Das Befinden Bolkendorfs, den mein Vater in der Klinik besuchte, war bedenklich. Er lag im Gipsverband, die Bewegungsfähigkeit der Beine war völlig gestört. »Ein rührend guter Mensch,« sagte mein Vater. »Denkt mehr an Rosel und ihre Mutter als an sich. Was ihn tröstet, ist die Hoffnung, es könne sein Mißgeschick ein Mittel werden, um Frau Kuttlers Scheidung durchzusetzen.« – »Wie wäre das möglich?« – »Wenn Kuttler in die Scheidung willigt, verzichtet Bolkendorf darauf, gegen ihn Antrag auf Strafe und Entschädigung zu stellen.« – »Und du meinst, das könne Kuttler bestimmen? Wäre denn seine Bestrafung erheblich?« – »Glaub's schon! Wenn der arme Bolkendorf lahm bleibt – und das ist möglich –, wenn er gar auf Schadenersatz klagt! Das träfe den Kuttler viel, viel härter als der Verlust des Obstgartens, den ihm die Frau eingebracht hat.« – »Dann wird also die Scheidung zustandekommen!« – »Wenn die Frau fest bleibt, ja!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 96-103.
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