[275] Arbeiterversicherung, im allgemeinen jede Versicherung von Lohnarbeitern (und der ihnen nahestehenden Klassen) gegen die ihnen sei es aus allgemeinen Verhältnissen, sei es aus den besonderen Verhältnissen ihres Berufes drohenden wirtschaftlichen Gefahren; im engeren Sinne die Versicherung gegen solche wirtschaftliche Gefahren, welche die Erwerbstätigkeit oder Erwerbsfähigkeit des Arbeiters aufheben oder beeinträchtigen. Gefahren, die eine Versicherung des Arbeiters in diesem engeren Sinne als geboten oder wünschenswert erscheinen lassen, können erwachsen durch Tod, Krankheit, Unfall, Invalidität, durch Altersschwäche und durch Arbeitslosigkeit, und so unterscheidet man Begräbnis-, Hinterbliebenen- (Witwen- und Waisen-), Kranken-, Unfall-, Invaliden-, Alters- und Arbeitslosenversicherung.
Anfänge solcher Arbeiterversicherungen, namentlich gegen Krankheit und Sterbefall, finden sich in Deutschland und andern Ländern schon früh in dem Unterstützungswesen der mittelalterlichen Genossenschaften, namentlich der Zünfte und Gesellenverbände. An die Stelle des damals statutarischen Unterstützungszwangs trat in der absolutistischen Zeit eine gesetzliche Unterstützungspflicht von Genossenschaften, Gemeinden u.s.w., bis mit dem Vordringen der Freiheit im wirtschaftlichen Leben das freie Hilfskassenwesen sich immer mehr entwickelte. In Deutschland wurde eine völlige Neugestaltung der Arbeiterversicherung herbeigeführt durch die in der Hauptsache Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beginnende Arbeiterversicherungsgesetzgebung. Nachdem schon unter dem 7. Juni 1871 ein Reichshaftpflichtgesetz (Gesetz betreffend die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken u.s.w. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen, Reichsgesetzblatt S. 207, s. Haftpflicht) und unter dem 7. April 1876 das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen (Reichsgesetzblatt S. 125, s. Hilfskassen) erlassen worden war, erging nach einem im März 1881 gemachten vergeblichen Versuch der Einführung einer reichsgesetzlichen Unfallversicherung unter dem 17. November 1881 eine Allerhöchste Botschaft Kaiser Wilhelms 1., die eine planmäßige Einrichtung der Unfall-, Kranken- und Invaliditäts- und Altersversicherung in Aussicht stellte. Das Ergebnis der an dieses Programm sich anschließenden Arbeiten war das Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 (Reichsgesetzblatt S. 73), das gewerbliche Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 (Reichsgesetzblatt S. 69), das Gesetz über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung, sogenanntes Ausdehnungsgesetz, vom 28. Mai 1885 (Reichsgesetzblatt S. 159), das Gesetz betreffend die Unfall- und Krankenversicherung[275] der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen vom 5. Mai 1886 (Reichsgesetzblatt S. 132), das Bauunfallversicherungsgesetz vom 11. Juli 1887 (Reichsgesetzblatt S. 287). das Seeunfallversicherungsgesetz vom 13. Juli 1887 (Reichsgesetzblatt S. 329) und das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889 (Reichsgesetzblatt S. 97). Auf allen dreien der vorgenannten Gebiete sind inzwischen neue Gesetze ergangen: zur Krankenversicherung solche vom 10. April 1892 (Reichsgesetzblatt S. 379), vom 30. Juni 1900 (Reichsgesetzblatt S. 332) und vom 25. Mai 1903 (Reichsgesetzblatt S. 233); zur Unfallversicherung fünf Gesetze vom 30. Juni 1900 (Reichsgesetzblatt S. 335 ff.) nebst einem weiteren Gesetze vom 30. Juni 1900, betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene (Reichsgesetzblatt S. 536) und zur Invaliditäts- und Altersversicherung das Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 (Reichsgesetzblatt S. 393). Näheres s. Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invalidenversicherung.
Das Charakteristische der deutschen Arbeiterversicherung ist die gesetzliche Zwangsversicherung auf öffentlichrechtlicher Grundlage unter möglichster Ausbildung der Gegenseitigkeit und der Selbstverwaltung. Ihre große Bedeutung und ihre segensreiche Wirksamkeit ist daraus ersichtlich, daß zurzeit etwa 10,3 Millionen Personen gegen Krankheit, 19,1 Millionen gegen Unfall und 13,4 Millionen gegen Invalidität und Altersnot versichert sind, für die Zwecke der Versicherungen zusammen zurzeit jährlich über 550000000 ℳ. aufgebracht werden und an Entschädigungen bis Ende 1903 im ganzen über 4 Milliarden gezahlt worden sind, ein Vermögen von 1,5 Milliarden angesammelt und bis jetzt über 300000000 ℳ. von den Invalidenversicherungsanstalten für gemeinnützige Zwecke aufgewendet worden sind [1]. Das große Werk der deutschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung ist übrigens noch nicht abgeschlossen. An ihrem weiteren Ausbau wird fortgesetzt gearbeitet, die Witwen- und Waisenversicherung ist durch § 15 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Reichsgesetzblatt S. 303), der die Verwendung gewisser Einnahmeüberschüsse zur Erleichterung der Durchführung einer spicken Versicherung vorschreibt, vorbereitet, die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist Gegenstand eingehender Prüfung. Auch in den übrigen Kulturstaaten ist der Arbeiterversicherung entsprechende Beachtung geschenkt worden. Fast alle europäischen Staaten, einschließlich Rußlands (Arbeiterunfallgesetz vom 2. Juni 1903), haben jetzt ihre Arbeiterversicherungsgesetze. Das deutsche System der obligatorischen Versicherung auf öffentlichrechtlicher Grundlage gewinnt allmählich immer mehr an Boden gegenüber dem in erster Linie durch Frankreich vertretenen System der freiwilligen Versicherung. An das deutsche System der Zwangsversicherung haben sich mehr oder weniger nah angeschlossen insbesondere Oesterreich, Norwegen, Finnland, Italien, Holland und Luxemburg [2]. In der Schweiz wurde die geplante Zwangs-Unfall- und Krankenversicherung durch Volksabstimmung vom 20. Mai 1900 verworfen.
Literatur: [1] Die Zahlen sind einem in Bd. 4, Heft 2 der Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, herausgegeben vom Deutschen Verein für Versicherungswissenschaft, S. 267 ff., Berlin 1904, wiedergegebenen Vortrag des früheren Präsidenten des Reichsversicherungsamts Dr. Bödiker entnommen. [2] Näheres bei Zacher, Die Arbeiterversicherung im Auslande, Berlin 1898 ff., in einzelnen Heften mit Nachträgen, welche die Sammlung stets auf dem laufenden halten sollen. Vgl. im übrigen Zacher, Leitfaden zur Arbeiterversicherung des Deutschen Reichs, Berlin 1900; Laß und Klehmet, Grundriß der deutschen Arbeiterversicherung (Sonderabdruck aus dem Dammerschen Handbuch der Arbeiterwohlfahrt), Stuttgart 1903; Artikel »Arbeiterversicherung« (von van der Borght, Honigmann u.a.) und »Arbeitslosigkeit« (von Adler) im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben von Conrad, Elster, Lexis und Löning, 2. Aufl., Jena 1898, Bd. 1, S. 607 und 920 ff.,; Kehm (Elster), Artikel »Arbeiterversicherung«, und Adler, Artikel »Arbeitslosigkeit« und »Arbeitslosenversicherung« im Wörterbuch der Volkswirtschaft, herausgegeben von Elster, Jena 1898, Bd. 1, S. 134 und 187 ff.; Götze-Schindler, Jahrbuch (früher Taschenkalender) der Arbeiterversicherung, Berlin, alljährlich neu erscheinend; Zeitschrift »Die Arbeiterversorgung«, Zentralorgan für das gesamte Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherungswesen im Deutschen Reich, Berlin 1884 ff.
Köhler.