[90] Blindenschrift. Bei der gegenwärtig allgemein eingeführten Blindenschrift werden die einzelnen Buchstaben durch Zusammenstellung von Punkten gebildet, die in starkes Papier eingedrückt sind. Der Blinde fühlt mit den Fingerspitzen die erhabenen Ränder dieser Punkte ab und lernt schnell die durch die einzelnen Punktbilder dargestellten Buchstaben erkennen. Die Punkte sind in Form der Würfelsechs angeordnet; die drei Punkte der ersten Reihe bedeuten z.B. ein L, und der oberste Punkt der ersten mit dem zweiten Punkte der zweiten Reihe ein E. Die so hergestellten Bücher sind aber wegen der erforderlichen Größe der Buchstaben und Stärke des Papiers zu umfangreich, teuer und schwer zu handhaben.
Es sind jetzt vielfache und aussichtsreiche Bestrebungen im Gange, den Blinden die Schrift unter Zuhilfenahme der Elektrizität zu vermitteln.
Thierbach, Berlin-Marienfelde, will die Schrift wie beim Siemens-Schnelltelegraphen zunächst als Lochschrift in einen Papierstreifen einstanzen (s. Telegraph) und den Streifen durch einen Stromsender treiben, der sechs kleine, in der Form der Würfelsechs angeordnete Stifte durch das Schließen und Oeffnen des elektrischen Stromes beim Vorbeilaufen des Lochstreifens auf und ab bewegt. Der Blinde, der je eine Fingerspitze und einen Punkt der Handfläche auf einen der sechs beweglichen Stifte legt, empfängt dann von jedem Buchstaben genau den gleichen Eindruck wie beim unmittelbaren Abtasten der bisherigen Punktschrift. Es kann auch der ganze elektromagnetische Bewegungsmechanismus fortfallen und die Reizung der Finger und Handfläche unmittelbar durch den elektrischen Strom erfolgen [1].
E.C. Brown von der Universität Jowa hat einen Apparat Phonoptikon genannt konstruiert, mit dem die Schrift den Blinden durch Töne vermittelt wird. Er verwendet zehn[90] kleine Selenzellen, mit denen die möglichst hellbelichteten Buchstaben abgetastet werden. Der Apparat wird zu diesem Zwecke langsam über die zu lesende Zeile hinweggeschoben. Ein Linsensystem wirst von dem beleuchteten Streifen ein reelles Bild auf die darunterliegende Selenzellenanordnung. Jede Selenzelle hat ihre eigene Schaltung. Bei der Verdunkelung einer Zelle ist im Fernhörer je ein bestimmter Ton wahrnehmbar, während die Selenzellen über Buchstabenbilder wandern; er entsteht infolge der Widerstandsänderung der Selenzelle, wenn ein Teil eines schwarzen Buchstabens in den belichteten Streifen tritt. 3 mm große Buchstabentypen geben bereits jedem Buchstaben eine bestimmte, leicht unterscheidbare Klangfolge [2].
Chr. Ries hat in Verbindung mit M. Finzenhagen eine Blindenlesemaschine konstruiert, bei der von den Buchstaben eines gewöhnlichen Druck- oder Schriftstückes durch eine optische Vorrichtung große Schattenbilder entworfen werden, über die eine Anordnung von acht Selenzellen bewegt wird. Die Selenzellen gleiten dabei über unbedruckte und bedruckte Papierstellen, also weißen und schwarzen Untergrund hinweg, und in den mit ihnen und einer Stromquelle verbundenen elektrischen Leitungen entstehen bei dem Wechsel von hell und dunkel Stromstöße, die nun ihrerseits durch Relais Tastvorrichtungen betätigen. Durch letztere werden die Fingerspitzen des Blinden gereizt. Jeder Buchstabe ist in eine Anzahl bis zu acht Bildpunkten zerlegt: der Blinde erhält dann die Vorstellung, als glitte ihm die Schrift in Form einer erhabenen Punktschrift unter den Fingern hindurch.
Das außerdem von Ries konstruierte Optophon beruht wie der gleichbenannte Apparat von Brown auf der Zuhilfenahme des Gehörs. Ries zerlegt bei seinem Lichthörer die Buchstaben in fünf Punkte und verwendet fünf Selenzellen, fünf Relais und fünf Lautgeber, sodaß die Kombinationen von fünf verschiedenen Tönen zur Charakteristik der einzelnen Buchstaben dienen [3].
Literatur: [1] Elektrotechnische Zeitschrift, Berlin 1916, Heft 25. [2] Telegraphen- und Fernsprechtechnik, Berlin 1916, Heft 5. Elektrotechnische Zeitschrift, Berlin 1917, Heft 9.
Otto Jentsch.