Drehstrom

[93] Drehstrom (Mehrphasenstrom). Man versteht hierunter eine Anzahl miteinander verketteter Wechselströme (s. Wechselstrom) [2], die gegeneinander eine Phasenverschiebung besitzen, aber von gleicher Periode sind.

Die Entstehung eines Drehstromes [3], [4], [5] ergibt sich aus folgender Betrachtung.

Setzt man zwei gegenüberliegende Wicklungsstellen a und b (Fig. 1) eines Grammeschen Ringes (s. Dynamomaschine) mit je einem Schleifringe in Verbindung, so kann man von dem letzteren durch die Bürsten 1 und 2 gewöhnlichen einphasigen Wechselstrom abnehmen.

Stellt man eine gleiche Verbindung noch an zwei weiteren Stellen c und d der Wicklung her, so erhält man an den Bürsten 3 und 4 ebenfalls einen Wechselstrom von gleicher Periode wie vorher, jedoch ist derselbe gegen den ersten um 90° verschoben, d.h. der Strom des einen Zweiges erreicht seinen Maximalwert (bei I) dann, wenn der des andern Zweiges Null geworden ist (bei 90) und umgekehrt. Eine derartige Verbindung zweier Wechselströme nennt man Zweiphasenstrom. Fig. 2 zeigt den Verlauf dieser beiden Ströme (s. Wechselstrom).

Verlegt man endlich die Stromentnahme an drei Ankerpunkte, die um 120° gegeneinander versetzt sind, so entsteht der Dreiphasenstrom oder Drehstrom, charakterisiert durch drei Wechselströme, die um 120° in der Phase verschoben sind und welche die Eigenschaft haben, daß ihre algebraische Summe in jedem Moment gleich Null ist. Die Kurven der Fig. 3 (Sinuslinien) zeigen den Stromverlauf. Man kann natürlich je nach der Wicklung beliebig viele solcher Ströme auftreten lassen und spricht dann von einem Fünfphasenstrom [6] u.s.w. Mit der Zahl der Phasen steigt jedoch auch die Zahl der Leitungen, und es wachsen dadurch die Anlagekosten.

Praktische Verwendung hat besonders der Dreiphasenstrom oder Drehstrom gefunden.

Die sich aus der Wicklung von drei Spulen ergebende Zahl von sechs Leitungsdrähten reduziert man durch zwei verschiedene Schaltungsarten auf drei, wobei möglichst gleichmäßige Belastung der drei Stromkreise vorausgesetzt ist. Diese Schaltungen [5] beruhen auf der Eigenschaft der dreiphasigen Ströme, daß die Summe der Momentanwerte (s. Wechselstrom) der drei Phasen in jedem Augenblick gleich Null ist.

Bezeichnet man mit i1, i2, i3 die Momentanwerte in der ersten, zweiten und dritten Phase, mit J0 den Maximalwert einer Phase und mit α den Winkel, den der Radiusvektor der ersten Phase mit der X-Achse bildet, so ergibt sich (s. Wechselstrom) der Momentanwert des ersten Stromes i1 = J0 sin α, der des zweiten i2 = J0 sin (α + 120°) und i3 = J0 sin (α + 240°). Die beiden letzten Gleichungen lassen sich umformen in: i2 = J0 (1/2 √3 cos α1/2 sin α) und[93] i3 = J0 (– 1/2 √3 cos α1/2 sin α); bildet man die Summe der drei Momentanwerte i1 + i2 + i3, so ist diese stets Null. Infolge dieser Eigenschaft können an der Drehstrommaschine zwei Schaltungen, die sogenannte Sternschaltung oder die Dreieckschaltung, ausgeführt werden, durch welche die drei Rückleitungen gespart werden.

Bei der Sternschaltung werden die Enden der Spulen der drei Phasen einer Drehstrommaschine oder eines Motors zu einem Punkte O geführt, während die drei Anfänge zur Fortleitung dienen. Die Darstellung des Schemas gibt Fig. 4. In den Zuleitungen I, II, III fließen dieselben Ströme wie in den Spulen a1 O, a2 O, a3 O; dagegen sind die Spannungen a1 O, a2 O, a3 O verschieden von den Spannungen a1 a2, a2 a3, a3 a1. Im Falle der Gleichheit der Ströme in den drei Leitungen läßt sich die Beziehung zwischen den Spannungen a1 O und a1 a2 leicht bestimmen. Die Maximalwerte der Spannungen a1 O, a2 O und a3 O sind einander gleich und bilden Winkel von 120° miteinander. In Fig. 5 seien A O = B O = C O = E0 diese Maximalwerte. Die maximale Spannung E zwischen a1 a2 (Fig. 4) ist nun der Maximalwert des Spannungsunterschiedes zwischen a1 O und a2 O, d.h. es sollen in Fig. 5 addiert werden die Größen A O und – B O, und die Diagonale O D gibt dann die gesuchte maximale Spannung a1 O der Größe und Richtung nach an.


Drehstrom

ergibt sich


Drehstrom

Will man anstatt der maximalen Werte die effektiven haben, so hat man nur beide Seiten der Gleichung durch √2 zu dividieren und erhält dann


Drehstrom

Der Effekt des Drehstroms in den drei Phasen ist, Gleichheit in allen drei Phasen vorausgesetzt, dreimal so groß wie in einer Phase, also E = 3 e'0 i' cos φ, wo i' den effektiven Wert des Stromes in der Phase a1 e1 (Fig. 4) bezeichnet (Messung des Effektes s. in [5]). Ersetzt man e'0 durch die effektive Spannung zwischen a1 a2, so wird E = e' i' √3 cos φ.

An Stelle der Sternschaltung kann auch die sogenannte Dreieckschaltung verwendet werden. Dieselbe ist in Fig. 6 schematisch dargestellt. Die drei Leitungen I, II, III, die von den Klemmen des Stromerzeugers kommen, führen zu den drei Klemmen A, B und C, zwischen welchen die Lampen oder die Spulen des Drehstrommotors sich befinden. Es ist hierbei gleichgültig, wie der Stromerzeuger geschaltet ist; er kann in Dreieckschaltung oder auch in Sternschaltung ausgeführt sein. Der Zusammenhang zwischen den momentanen Stromwerten J1, J2, J3 in den Zuleitungen und den Strömen i1, i2, i3 in den drei Zweigen (Fig. 6) ergibt sich wie folgt: Nach dem ersten Kirchhoffschen Gesetz ist J1 = i1 – i2, J2 = i2 – i1 und J3 = i3 – i2, nach dem zweiten gilt die Gleichung i1 w1 + i2 w2 + i3 w3 = 0. Sind die Widerstände der drei Zweige gleich, ist also w1 = w2 = w3, was vorausgesetzt werden möge, so wird i1 + i2 + i3 = 0. Löst man diese Gleichungen nach i1, i2 und i3 auf, so ergeben sich die Werte i1 = J1 – J2/3, i2 = J2 – J3/3,i3 = J3 – J1/3.

Die Momentanwerte der Ströme i1, i2, i3 sind aber die Projektionen der Maximalwerte i1 = J1 – J2/3 u.s.w. auf eine vertikale Gerade. Die Maximalwerte der Ströme J1, J2, und J3 sind gleich, weil die Widerstände der Zweige gleich sind, und bilden Winkel von 120° miteinander. In Fig. 7 mögen AO, BO und CO diese Werte darstellen, dann ist OD die Summe von OA (Maximalwert von J1) und – OB (OB Maximalwert von J2), und OD/3 gibt den Maximalwert von i1 an. Derselbe ist, da


Drehstrom

In derselben Weise stellen OE/3 und OF/3 die Maximalwerte von i2 und i3 vor. Wie man sieht, bilden auch diese Werte wieder Winkel von 120° miteinander.

Der Effekt in den drei Zweigen ist wieder dreimal so groß wie in einem Zweige, also E = 3 · e' i' cos φ, wo e' die effektive Spannung zwischen A und B (Fig. 6), i' die effektive Stromstärke in dem Zweige AB und cos φ den Cosinus des Phasenverschiebungswinkels zwischen Strom und Spannung darstellt. Ersetzt man i' durch die effektive Stromstärke J' in einer Zuleitung, so wird


Drehstrom

das ist derselbe Wert, den die Sternschaltung ergab.

Fig. 8 zeigt die eine dieser Schaltungsarten für den Anker der Drehstromdynamo, nämlich die Dreieckschaltung oder geschlossene Verkettung. Bei dieser besteht der Anker aus einer in sich geschlossenen Wicklung, von der drei Abzweige zu den Schleifringen führen.

Sind dagegen (Fig. 9) drei gesonderte Ankerwicklungen vorhanden, deren drei Anfänge zu den Schleifringen führen, während die drei Enden miteinander verbunden sind, so entsteht die Sternschaltung oder offene Verkettung. An den Bürsten 1, 2 und 3 wird der erzeugte Drehstrom entnommen.[94]

Verwendung findet der Drehstrom überall dort, wo auch gewöhnlicher Wechselstrom, vor dem er Vorzüge besitzt, zulässig ist. Seine Transformierung bietet keine Schwierigkeiten; ebenso brauchbar ist er zum Betriebe von Glüh- und Bogenlampen. Die Vorzüge des Drehstromes gegenüber dem gewöhnlichen einphasigen Wechselstrom bestehen besonders in der besseren Abgabe von Arbeit durch Elektromotoren. Ein Drehstrommotor verhält sich ebenso wie ein Gleichstrommotor, besitzt aber diesem gegenüber den Vorzug des Fehlens von Kollektor, Bürsten u. dergl. Auch kann er bei kleinerer Kraftabgabe (4–6 PS.) ohne Anlaßwiderstand laufen.

Das Prinzip, auf welchem die Drehstrommotoren [1], [6], [7] beruhen, ist folgendes: Der feststehende Eisenring a des Motors (Fig. 10) besitzt eine Bewicklung, die nach dem Prinzip der Dreiecks- oder der Sternschaltung ausgeführt ist. Die drei Enden dieser Wicklung werden an die drei Klemmen einer Drehstromleitung gelegt und hierdurch die Wicklungen mit Wechselströmen gespeist, die Phasenunterschiede von 120° besitzen, d. h es wird der Reihe nach in den einzelnen Spulen ein fortwährendes Abnehmen und Anwachsen der Stromstärke stattfinden, was bewirkt, daß der im äußeren Ringe a erzeugte Magnetismus von einer Spule nach der andern wandert und hierdurch ein magnetisches Drehfeld herstellt. Befindet sich im Innern dieses Ringes, also dieses Drehfeldes, eine Kupferscheibe, so entliehen in derselben Wirbelströme, welche nach dem Lenzschen Gesetze die Bewegung des magnetischen Feldes zu hemmen suchen. Infolgedessen wird die Scheibe durch das kräftige Drehfeld mitgenommen und in Rotation versetzt. An Stelle der Kupferscheibe tritt bei der praktischen Ausführung ein sogenannter Kurzschlußanker, der aus einem Kern von weichen Eisenblechscheiben b besteht und mit einer Anzahl von in sich kurzgeschlossenen Windungen aus. Kupferdraht c versehen ist. Der Anker rotiert um die Achse d (s. Motor, elektrischer).

In die Praxis eingeführt wurde der Drehstrom Ende der achtziger Jahre durch Dolivo-Dobrowolski und Haselwander, nachdem die grundlegenden Arbeiten von Ferraris und Tesla vorausgegangen.


Literatur: [1] Sahulka, Ueber Drehstrommotoren, Wien 1892. – [2] Kapp, Elektrische Wechselströme, deutsch von Kaufmann, Leipzig 1900. – [3] Tesla, Untersuchungen über Mehrphasenströme, deutsch von H. Maser, Halle 1895 – [4] Grätz, Die Elektrizität, Stuttgart 1904. – [5] Holzt, Schule des Elektrotechnikers, Bd. 2, Leipzig 1900. – [6] Elektrotechnische Zeitschr. 1891–1905. – [7] Benischke, Die asynchromen Drehstrommotoren, Braunschweig 1904. – [8] Arnold, Die Wicklungen der Wechselstrommaschinen, Berlin 1904. – [9] Kapp, Elektrische Wechselströme, Leipzig 1900. – [10] Ders., Dynamomaschinen für Gleich- und Wechselstrom, Berlin 1904. – [11] Heubach, Der Drehstrommotor, Berlin 1903. – [12] Reichel, Die Verwendung des Drehstromes u.s.w., München 1903.

Holzt.

Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 4., Fig. 5., Fig. 6., Fig. 7.
Fig. 4., Fig. 5., Fig. 6., Fig. 7.
Fig. 8., Fig. 9., Fig. 10.
Fig. 8., Fig. 9., Fig. 10.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 93-95.
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93 | 94 | 95
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