[455] Enteignung (Zwangsenteignung, Expropriation), der Verwaltungsakt, (das Verfahren), durch den (das) das Eigentum oder sonstige dingliche Rechte im öffentlichen Interesse dem Eigentümer oder sonstigen Berechtigten gegen Entschädigung zum Zweck der Uebertragung an den Staat, eine sonstige öffentliche Körperschaft oder eine besonders ermächtigte Privatperson zwangsweise ganz oder teilweise entzogen oder durch Belastung zugunsten dritter eingeschränkt werden.
Die in der Enteignung liegende bedeutsame Einschränkung des Eigentums und der andern dinglichen Rechte findet ihre Rechtfertigung in der Rücksicht auf das öffentliche Interesse, dem das Sonderinteresse des einzelnen sich unterzuordnen hat. Die Gerechtigkeit und Billigkeit erfordert aber, daß der einzelne für die durch die Enteignung erzwungene Preisgabe seiner Rechte entsprechende Entschädigung erhalte. Die Ausbildung des modernen Enteignungsrechts ist der französischen Gesetzgebung zu verdanken, die für diejenigen der meisten andern Staaten auf diesem Gebiete vorbildlich wurde. Zur Ausgestaltung der Gesetzgebung über die Enteignung hat namentlich die Entwicklung des Eisenbahnwesens beigetragen. In Deutschland ist das Enteignungsrecht im wesentlichen landesgesetzlich geregelt. Nach Art. 109 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die im öffentlichen Interesse erfolgende Entziehung, Beschädigung oder Benutzung einer Sache, Beschränkung des Eigentums und Entziehung oder Beschränkung von Rechten unberührt. Reichsrechtliche Bestimmungen über Enteignung finden sich insbesondere im Art. 41 der Reichsverfassung zugunsten des Eisenbahnbaus (s. unten), im Reichsrayongesetz vom 21. Dezember 1871 (Reichs-Gesetzblatt, S. 459) hinsichtlich des Grundeigentums in der Nähe von Festungen, im Kriegsleistungsgesetz vom 13. Juni 1873 (Reichs-Gesetzblatt, S. 129) bezüglich der Verpflichtung der Pferdebesitzer, ihre zum Kriegsdienst für tauglich erklärten Pferde an die Militärbehörde zu überlassen. Von einzelstaatlichen Enteignungsgesetzen sind zu erwähnen: das preußische Gesetz vom 11. Juni 1874 [1], das bayrische vom 17. November 1837 [2], das württembergische vom 20. Dezember 1888 [3], das badische vom 26. Juni 1899 [4] und das hessische vom 26. Juli 1884 [5]. Neben diesen allgemeinen Enteignungsgesetzen kommen noch eine Reihe von Spezialgesetzen, namentlich auf dem Gebiete des Eisenbahn-, Berg-, Landwirtschafts-, Bau- und Wasserrechts in Betracht, die Bestimmungen über Zwangsenteignung enthalten. Man unterscheidet das materielle Enteignungsrecht, das sich mit den sachlichen (materiellen) Voraussetzungen und Grundlagen der Enteignung beschäftigt und das formelle Enteignungsrecht, das die Formen des bei der Enteignung zu beobachtenden Verfahrens enthält. Zum materiellen Enteignungsrecht gehören vor allem die Bestimmungen über den Enteignungsberechtigten (Expropriant) und den der Enteignung Unterworfenen (Expropriat), über den Gegenstand der Enteignung, über die Voraussetzungen, unter denen die Enteignung stattfinden darf, sowie über die Entschädigungsleistung. Was den Enteignungsberechtigten betrifft, so ist die Enteignung in der Regel nur zugunsten des Staates oder einer öffentlichen Körperschaft zulässig, ausnahmsweise (beim Vorliegen eines öffentlichen Interesses) auch zugunsten einer besonders ermächtigten Privatperson. Der Enteignung unterworfen kann jede natürliche oder juristische Person werden, die im Staatsgebiet Vermögensgegenstände besitzt, die für das betreffende Unternehmen notwendig erscheinen; auch der Staat selbst kann unter Umständen Enteigneter sein. Die Enteignung erstreckt sich nicht nur auf unbewegliche Sachen und dingliche Rechte an solchen, sondern auch auf bewegliche Sachen. Selbst bloße Rechte, z.B. das Patentrecht, können Gegenstand der Enteigung sein. In der Regel wird es sich allerdings um die Enteignung von Grundeigentum handeln. Zwecke, zu denen Enteignungen bewilligt zu werden pflegen, sind namentlich die Anlegung von Eisenbahnen, die Austrocknung von Sümpfen, die Durchführung von Bebauungsplänen, Feldbereinigungen, Flußregulierungen, ferner Friedhofsanlagen und -erweiterungen, der Bau von Hafenanlagen, Irrenanstalten, Kanälen, Kirchen, Krankenhäusern, Militäranstalten und Anlagen der Landesverteidigung und von Schulen, sodann Kulturverbesserungen (Meliorationen), Straßenbauten, Einrichtung von Telegraphenanlagen und Wasserversorgungsanlagen. Die Enteignung kann auch im Interesse der öffentlichen Gesundheit für besondere Verhältnisse verfügt werden oder im Interesse der Feuersicherheit wertvoller Archive, Kunstsammlungen, wissenschaftlicher Institute u.s.w. Eine besondere Bedeutung hat die Enteignung neuerdings erhalten in den Bestrebungen zur Herbeiführung eines gesundheitlich und sozial zweckmäßigen Ausbaus der Städte (Zwangsumlegung). Das Enteignungsrecht macht es oft möglich, Unternehmungen, die dem allgemeinen Wohl dienen, auch gegen den Widerspruch einzelner eigenwilliger Widerstrebender durchzuführen. Eingehend zu beschäftigen hat sich das Enteignungsrecht mit der Entschädigungsfrage. Es wird allgemein in der Gesetzgebung davon ausgegangen, daß dem Enteigneten voller Ersatz des Werts des enteigneten Gegenstands oder Rechts zu gewähren ist. Darüber, was hierunter zu verliehen ist, werden ausführliche Vorschriften gegeben. Dem Enteigneten soll, übrigens ohne[455] die objektiven Grundlagen zu verlassen, nicht nur der gewöhnliche Kaufwert der Sache, sondern auch derjenige besondere Wert ersetzt werden, den die Sache gerade für ihn hat. Hinsichtlich des Enteignungsverfahrens bestehen nicht unerhebliche Unterschiede. Die Bewilligung der Enteignung erfordert nach dem einen System in jedem einzelnen Falle ein besonderes Gesetz (so die Gesetzgebung der Hansestädte, ferner Englands, der Schweiz und der Vereinigten Staaten, ebenso Art. 41 der Deutschen Reichsverfassung, wonach Eisenbahnen, die im Interesse der Verteidigung Deutschlands oder im Interesse des gemeinsamen Verkehrs für notwendig erachtet werden, kraft eines Reichsgesetzes auch gegen den Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Eisenbahnen durchschneiden, unbeschadet der Landeshoheitsrechte für Rechnung des Reichs angelegt oder an Privatunternehmer zur Ausführung konzessioniert und mit dem Expropriationsrechte ausgestattet werden können). Nach dem andern System (Preußen, Württemberg, Baden, ferner Frankreich) wird die Enteignung im einzelnen Falle auf Grund des die Voraussetzungen der Enteignung im allgemeinen bestimmenden Enteignungsgesetzes durch eine Verwaltungsanordnung (Allerhöchste Verordnung, Entschließung des Staatsministeriums) zugelassen. In Bayern sind die Zwecke, für welche Enteignungen stattfinden dürfen, durch ein allgemeines Gesetz festgestellt. Hessen hat ein gemischtes System: dem Staat, den Provinzen, den Kreisen und den Gemeinden steht das Enteignungsrecht kraft Gesetzes zu. An Privatpersonen und Privatgesellschaften zu Eisenbahnunternehmungen, ferner an das Deutsche Reich und an einen deutschen Bundesstaat kann das Recht durch landesherrliche Verordnung, an andre Unternehmer nur durch besonderes Gesetz verliehen werden. Ueber die Feststellung des Umfangs der Enteignung und das Verfahren zur Ermittlung der Entschädigung (unter Beiziehung von Sachverständigen), über die Berücksichtigung etwaiger dritter Berechtigter (Hypothekengläubiger, Realberechtigte, Pächter und Mieter) sind überall eingehende Vorschriften erteilt. Soweit die Festsetzung der Entschädigung von der Verwaltungsbehörde bewirkt wird, ist sie meist auf dem Rechtsweg anfechtbar. Die Entschädigung ist in der Regel vor der Ueberweisung der enteigneten Sache an den Enteigner von diesem zu entrichten oder zu hinterlegen.
Literatur: [1] Eger, Das Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874, 2. Aufl., Breslau 1902; Seydel, Das Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874, 3. Aufl., Berlin 1903; Koffka, Kommentar zum Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874, Berlin 1905. [2] Henle, Die Zwangsenteignung von Grundeigentum in Bayern, München 1890. [3] Geßler, Die württemb. landesgesetze und Verordnungen zur Ausführung und Ergänzung der Zivilprozeßordnung und des Zwangsversteigerungsgesetzes, 2. Aufl., Tübingen und Leipzig 1902, S. 133 ff., 218 ff.; Reiff, Neue allgemeine Bauordnung für das Königreich Württemberg, Stuttgart 1902, S. 483 ff. [4] Süpfle, Das badische Enteignungsrecht, Karlsruhe 1903. [5] Fuld, Das Enteignungsrecht im Großherzogtum Hessen, in den Annalen des Deutschen Reichs, herausgegeben von Hirth und Seydel, 1885, S. 58 ff. Weitere Literatur: Grünhut, Artikel »Enteignung« im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, herausgegeben von Conrad, Elster, Lexis und Löning, 2. Aufl., Jena 1900, Bd. 3, S. 621 ff.; Neukamp, Artikel »Enteignung« im Wörterbuch der Volkswirtschaft, herausgegeben von Elster, Jena 1898, Bd. 1, S. 640 ff, mit Nachtrag ebend. S. 1090; Meyer, G., Artikel »Enteignung (Zwangsenteignung, Expropriation)« im Wörterbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, herausgegeben von Frhr. v. Stengel, Freiburg 1890, 1. Bd., S. 355 ff., alle drei Artikel mit eingehender weiterer Literaturangabe; Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Leipzig 1896, Bd. 2, S. 3 ff.; Grünhut, Das Enteignungsrecht, Wien 1873; v. Rohland, Zur Theorie und Praxis des deutschen Erziehungsrechts, Leipzig 1875; Layer, Prinzipien des Enteignungsrechts, Leipzig 1902.
Köhler.
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