Radikaltheorie

[343] Radikaltheorie, durch Lavoisier und Berzelius angebahnt, wurde durch Liebig und Wöhler auf Grund ihrer mit Benzoylverbindungen enthaltenen Untersuchungsresultate (1832) weiter ausgebildet.

Organische Radikale sind zusammengesetzte kohlenstoffhaltige Atomgruppen, die bei den Umsetzungen organischer Verbindungen die Rolle von Elementen spielen. Auf solche Radikale fließ man beim Studium der Umsetzung organischer Verbindungen infolge der Einwirkung verschiedener Agenzien, sofern sich gewisse Teile oder Reite der Verbindungen dieser Einwirkung entzogen, die dann als unangegriffen gebliebene kohlenstoffhaltige Atomgruppen unverändert von einer Verbindung in die andre übertragen werden konnten. Es zeigten somit diese Atomgruppen ein ähnliches Verhalten wie die Elemente, die sich bekanntermaßen ebenfalls von einer Verbindung in die andre unverändert übertragen lassen. Eine weitere Aehnlichkeit mit den Elementen ist die Fähigkeit dieser Atomgruppen, sich wie die Elemente mit andern Elementen zu verbinden und letztere in Verbindungen zu ersetzen. Man hat daher diese Atomgruppen als die näheren Bestandteile der organischen Verbindungen aufgefaßt und sie als Radikale bezeichnet. Ein solches Radikal ist z.B. die Atomgruppe C2H5, bekannt unter dem Namen Aethyl; sie zeigt eine gewisse Aehnlichkeit mit den Alkalimetallen. Z.B.:

(C2H5)OH = Aethylalkohol, ähnlich dem KOH = Kaliumhydroxyd,

(C2H5)2O = Aethyläther, ähnlich dem K2O = Kaliumoxyd,

(C2H5)J = Jodäthyl, ähnlich dem KJ = Jodkalium,

(C2H5)2SO4 = Schwefelsaures Aethyl, ähnlich dem K2SO4 = Kaliumsulfat,

(C2H5)HSO4 = Aethylschwefelsäure, ähnlich dem KHSO4 = Saures Kaliumsulfat.

Die Rolle, welche die Radikale bei Umsetzungen spielen, und die Aehnlichkeit des Aethyls mit den Kaliumverbindungen sei durch folgende Formeln veranschaulicht:


Radikaltheorie

Die Radikaltheorie betrachtete die organische Chemie als die Chemie der zusammengesetzten Radikale, und es war Aufgabe der Forscher, diese Radikale zu ermitteln und näher[343] zu untersuchen. Freilich fand man alsdann auf Grund von späteren Untersuchungen, daß die Radikale als solche nicht existieren, daß ihr Vorhandensein lediglich ein hypothetisches ist. Scheinbar wurden zwar Radikale isoliert; man fand aber, daß diese nicht die freien Affinitäten der hypothetischen Radikale besitzen, sondern gesättigte Verbindungen bilden, die nicht identisch,. sondern nur polymer mit letzteren sind:


Radikaltheorie

Für den Ausbau der organischen Chemie als Wissenschaft war die Radikaltheorie von großer Bedeutung, und wenn auch beim Fortschreiten der organischen chemischen Wissenschaft mit Hilfe der Radikaltheorie manche Erscheinungen nicht ausreichend erklärt werden konnten, so hat sie ihrer Einfachheit halber und wegen ihrer Uebersicht, mit der die chemischen Vorgänge veranschaulicht werden konnten, der organischen Chemie große Dienste geleistet. Man hält daher heute noch teilweise an ihr seit und benutzt noch die hypothetischen Radikale; doch versteht man nach der modifizierten Anschauung unter Radikalen nur noch ungesättigte, nicht isolierbare Atomgruppen, die bei den Umsetzungen der Verbindungen unverändert bleiben und sich so scheinbar aus einer Verbindung in die andre übertragen lassen. Bezeichnet man die kohlenstoffhaltigen Atomgruppen als organische Radikale, so nennt man die kohlenstofffreien bei den Umsetzungen organischer Verbindungen unverändert bleibenden Atomgruppen anorganische Radikale. Organische Radikale sind außer dem als Beispiel gewählten Aethyl das Methyl, das Aethylamyl, das Glyzeryl u.a. Liefern sie wie die eben genannten in Verbindung mit Hydroxylen Alkohole, so nennt man sie Alkoholradikale. Liefern sie mit Hydroxyl Säuren, wie dies bei Atomgruppen geschieht, die aus Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff zusammengesetzt sind, so nennt man sie Säureradikale. Das Oxalyl C2O2 ist das Radikal der Oxalsäure (C2O2(OH)2), das Acetyl C2H3O das der Essigsäure(C2H3O · OH), das Succinyl C4H4O2 das Radikal der Bernsteinsäure (C4H4O2(OH)2). Bezüglich ihrer Wertigkeit verhalten sich die Radikale ebenfalls wie die Elemente; je nachdem sie eine, zwei oder drei u.s.w. freier Affinitäten enthalten, können sie auch mehrere Atome Wasserstoff, Chlor u.s.w. besitzen oder vertreten. Anorganische Radikale sind z.B. das Ammonium NH4 das Hydroxyl OH, das Nitroxyl NO2 u.a.m.

Bujard.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 343-344.
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