Stil

[322] Stil, der Charakter (die Eigentümlichkeit) eines Kunstwerkes, in bezug auf dessen ästhetische Gestaltung folgende allgemeine Stilgesetze zu gelten haben:

1. Das Kunstwerk muß so gebildet sein, daß es sowohl als Ganzes als auch in den einzelnen Teilen seinem Zweck entspricht, und dieser Zweck soll auch in der äußeren Formentwicklung zum Ausdruck gelangen. Dieses Gesetz verlangt z.B., daß ein Palast und eine Mietkaserne entsprechend den Anforderungen und Bedürfnissen ihrer Bewohner eingeteilt und eingerichtet seien und daß man schon äußerlich beide voneinander unterscheiden kann, oder daß ein Stuhl nicht nur schön ausgestattet sei, sondern daß man auch gut und behaglich darauf sitzen könne.

2. Es sollen die guten und charakteristischen Eigenschaften der Stoffe, aus welchen das Kunstwerk gebildet werden soll, volle Berücksichtigung finden und äußerlich zur Geltung gelangen. So wird man z.B. Säulen, die aus weißem Marmor gefertigt sind, sehr wohl mit Kannelüren versehen können; Säulen aus dunkelgefärbten und namentlich stark geäderten Marmorsorten mit Rinnen zu schmücken, ist dagegen nicht angezeigt, weil durch diese Kannelüren das schöne Aderwerk unangenehm durchschnitten würde.

3. Es sollen sich in der Formgebung des Kunstwerkes die Art und die Handhabung der Werkzeuge oder die dabei angewendeten Prozeduren erkennen lassen; auch soll jeder Stoff nur solchen technischen Behandlungsweisen unterzogen werden, die den charakteristischen Eigenschaften des Materials nicht entgegenstehen. Es wird leicht einzusehen sein, daß dieses Stilgesetz mit dem vorigen zumeist in innigem Zusammenhange steht. Ein eisernes Gitter z.B. wird eine ganz andre Formdurchbildung erfahren, wenn es von Gußeisen, als wenn es von Schmiedeeisen gefertigt erscheint, u.s.w.

Die speziellen Stilgesetze richten sich nach dem mehr oder minder hohen Grade der Kultur eines Volkes und nach den eigentümlichen Verhältnissen, unter welchen dasselbe lebt; auf diese Weise hat sich der ägyptische, griechische, römische, gotische u.s.w. Stil herausgebildet. Es kann aber auch eine Stadt ihren eigenen Stil haben (Berliner, Wiener Baustil), ja es kann sogar eine Persönlichkeit, wenn sie genügenden Einfluß hat, einen neuen Stil erstehen lassen; so spricht man von dem Stile Michelangelos, Bramantes, Schinkels u.s.w. Näheres in [1]–[4].


Literatur: [1] Semper, G., Der Stil, Frankfurt a.M. 1860. – [2] v. Schubert-Soldern, Ein Beitrag zur Charakteristik der Stilgesetze, Prag 1882. – [3] Alt, System der Künste, Berlin 1888. – [4] Riegl, A., Stilfragen, Berlin 1893.

Weinbrenner.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 322.
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