Das Berggeistl

[123] Es war einmal ein blutarmes Weib, das lag sterbenskrank und hatte weder einen Bissen Brot noch einen roten Pfennig zu Hause. Da sprach es zu seinem einzigen Kind, das ein gar braves, frommes Mädchen war: »Geh in den Wald, Moidele, und suche Beeren! Die kannst du dann in die Stadt tragen und dort verkaufen.«

Das Mädchen nahm sein Weidenkörbchen, ging in den Wald hinein und kam immer weiter und weiter im dunklen Forst, bis es endlich Schwarzbeeren in Unzahl fand. Es sammelte nun dieselben ins Körbchen, gab auf nichts anderes acht und wurde des Pflückens gar nicht müde. Dabei dachte es sich: Wenn ich das Körbchen gehäuft voll habe, kann ich zwei Sechser bekommen und der Mutter auch etwas Besseres als nur Brot kaufen. Indessen war der Tag sehr vorgerückt, und der Abend dämmerte schon hinter den Bergen herauf. Da stand auch das Mädchen[123] auf, sah seelenvergnügt aufs volle Körbchen und wollte heimgehen.

Es machte sich nun auf den Weg, doch bald war der Steig verschwunden, und es wußte nicht wohin und wo aus. Es lief nun über Stock und Stein, durch dick und dünn, doch je weiter es ging, desto dichter wurden die Bäume und desto mehr begann es zu dunkeln. Da wurde es dem Kind gar unheimlich zumute, es stand still und weinte bitterlich. Dann faßte es sich wieder und ging vorwärts, doch an ein Herausfinden aus dem Wald war nicht zu denken. Wie das Moidele schon jede Hoffnung aufgab, nach Hause zu kommen, trappelte es plötzlich durch die Bäume daher, und ehe sie es meinte, stand ein kleines, kleines Männchen, das in grauen Baumbart gekleidet war, vor ihm.

Es war das Berggeistl. Als es sah, daß das Mädchen weine, redete es das Mädchen gar freundlich an und fragte: »Was fehlt denn dir, daß du weinst?«

»Ach«, sagte schluchzend das Moidele, »ich habe Schwarzbeeren gesucht, um dafür Brot und Fleisch für die kranke Mutter zu kaufen, und jetzt find' ich nicht mehr aus dem Wald, muß hier übernachten, und die kranke Mutter ist ganz allein.«

»Wenn nur das fehlt«, erwiderte das Männchen, »so ist dir leicht zu helfen. Warte, ich werde dich gleich aus dem Wald führen, folge mir nur!«

Mit diesen Worten ging das Berggeistl voraus, und wo es hintrat, war guter Weg. Das Mädchen folgte, obwohl es hundemüde war, und bald wurde der Wald lichter und lichter, bis sie im Freien standen. Dem Moidele klopfte nun das Herz vor Freude, und es dankte dem kleinen Männchen gar herzlich.

»Deine Mutter ist krank«, sprach da das Berggeistl. »Weil du so brav bist, soll ihr geholfen werden.« Dann bückte es sich und pflückte einige Kräuter, die es dem Kind gab. »Siede sie heute noch und gib das Wasser davon deiner Mutter zu trinken, und sie wird alsogleich gesund werden.« Das Berggeistl lächelte, und im Nu war es verschwunden.

Moidele lief nun voll Freude heim und erzählte der Mutter, was ihm im Wald begegnet war. Dann ging es in die rußige Küche, machte Feuer an und sott die Kräuter. Als dies geschehen war, seihte sie das Wasser davon ab und brachte es der Mutter. Diese[124] trank es, und kaum hatte sie den letzten Tropfen davon zu sich genommen, als sie sich ganz gesund fühlte und aufstand.

Dies alles hatte der Bub des Nachbarn, der öfter in die Hütte kam, gesehen und gehört, und er dachte sich: Warte, jetzt will ich auch in den Wald hinausgehen und mir solche Wunderkräuter geben lassen. Die will ich dann in der Stadt um teures Geld verkaufen und mir dafür Zuckerfeigen und anderes anschaffen.

Gedacht, getan. Am anderen Tag ging der böse Bub in den Wald, aß dort Heidelbeeren und als er deren satt war, drang er tiefer in den Wald und fing endlich zu flennen und zu heulen an, daß die Bäume widerhallten. Er hatte schon lang gelärmt, als das Berggeistl dahergegangen kam und fragte: »Was machst du hier in meinem stillen Wald für einen Lärm?«

»Weil ich nimmer heimfinde und meine kranke Mutter ganz allein ist.« Dabei weinte der Knabe, hob beide Hände auf und bat kniefällig, ihn doch aus dem Wald zu führen.

»Wenn dir nichts anderes fehlt, so soll dir geholfen werden«, sprach das Berggeistl und ging voran. Der Knabe folgte ihm.

Da führte das Berggeistl den falschen Buben vier Stunden lang durch den dichtesten Wald, bergab, bergauf, so daß er todmüde wurde und seine Falschheit bitter bereute. Als der Knabe vor Müdigkeit beinahe nicht mehr weiter kam, standen sie endlich am Saum des Waldes. Da war der Knabe froh und wollte schon davonlaufen, als das Männlein sprach: »Warte, ich muß dir auch ein heilsames Kräutlein mitgeben.«

Bei diesen Worten bückte sich das Berggeistl und rupfte einige Blätter ab, die es dem Buben gab. Dann sprach es: »Siede sie dir und trink vom heilsamen Wasser.«

Kaum hatte der Knabe die Kräuter, so eilte er über Stock und Stein nach Hause und tat nach den Worten des Berggeistls. Er ging in die Küche, machte Feuer an und sott die Kräuter. Dann seihte er das Wasser ab und trank es voll Gier. Doch siehe, kaum hatte er es getrunken, als er für seine Falschheit bitter bestraft wurde. Er bekam Bauchweh, daß er sich vor Schmerzen wie ein Wurm wand und bog. Das dauerte einige Tage, und seitdem war er ein braver Bursche, denn das Kräutlein hatte eine gar heilsame Wirkung getan.


(mündlich aus Zirl)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 123-125.
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