Der Menschenfresser

[121] Einmal verspätete sich ein Büblein, das Erdbeeren suchte, im Wald. Es dunkelte schon, und an ein Nachhausekommen war nicht mehr zu denken. Da dachte das Büblein: Vielleicht wohnen Leute in der Nähe, bei denen ich übernachten kann. Wart, ich will mal auf einen Baum klettern und schauen, ob nirgends ein Haus zu sehen ist. Gedacht, getan. Es spuckte sich in die Hände und kletterte auf eine Tanne hinauf wie ein Eichkätzchen. Als es am hohen Wipfel droben hing, schaute es nach allen Seiten aus und sah in nicht weiter Entfernung ein Hüttchen[121] stehn. Darob hatte das Bübchen keine kleine Freude und stieg rasch und munter vom Baum herunter, dann schlug es den Weg zum Hüttchen ein, bei dem es auch bald anlangte. Das Büblein wollte nun hineingehen, allein die Tür war geschlossen. Da klopfte der Knabe an die Tür, bald wurde sie geöffnet, und ein altes, kleines Mütterlein fragte um sein Begehr.

Da sprach das Büblein: »Ich bitt' um eine Nachtherberge, denn ich komme heut nicht aus dem Wald, und da draußen fürcht' ich mich vor den Wölfen und Bären.«

Darauf antwortete das Mütterlein: »Mein gutes Kind, da bist du hier nicht am rechten Ort, denn hier wohnt der Menschenfresser, der dich mit Haar und Bein auffräße, wenn er deiner ansichtig würde.«

Als das Büblein dies hörte, fing es an zu weinen und sprach bittend: »Gebt mir doch eine Nachtherberge und versteckt mich vor dem Menschenfresser.«

Das Mütterlein hatte Mitleid mit dem Knaben und führte ihn in das Hüttchen. Dort versteckte sie ihn in einem leeren Fäßchen, gab ihm ein Hölzchen und sprach: »Nun duck dich und halt dich mäuschenstill. Wenn dich aber der Alte dennoch aufspürt und er einen Finger von dir sehen will, so halt ihm das Hölzchen heraus.« Dann ging sie ihren Geschäften nach.

Dem Büblein war aber in seinem Fäßchen höllenangst, so daß ihm der kalte Schweiß herabrann. So war ihm unter Furcht und Angst schon einige Zeit verstrichen, als es draußen polterte und der wilde Mann in die Stube trat. Dieser witterte und sprach dann: »Ich schmecke, ich schmecke Menschenfleisch!«

Da wollte das alte Mütterchen ihm diesen Glauben nehmen und sagte: »Du schmeckst, du schmeckst einen Hennendreck.«

Der Menschenfresser ließ sich aber nicht irremachen, witterte immer mehr und mehr und kam zum Fäßchen, in dem das Bübchen saß, da sprach der Alte mit grauenhafter Stimme: »Da drin, da drin ist Menschenfleisch. Reck du deinen Finger heraus, damit ich sehe, ob du fett bist.«

Da dachte das Büblein an den Rat des alten Weibchens und hielt das Hölzlein heraus. Das betastete der Menschenfresser und sprach: »Dieses Stück ist noch holzdürr! Es muß noch gemästet werden.«[122]

Dann setzte er sich zum Tisch, fraß, trank und fluchte und ging, als er satt war, ins Bett. Das Büblein war aber seelenfroh und dankte Gott für seine Rettung. Dann schlief es auch ein.

Am anderen Morgen ging der wilde Mann schon früh in den Wald. Als er fort war, hieß das alte Mütterchen den Knaben aus dem Fäßchen gehen und gab ihm ein Frühstück. Dann sagte sie: »Jetzt iß und stille deinen Hunger, dann will ich dich aus dem Wald führen.«

Der Knabe ließ sich das nicht zweimal sagen, aß wie ein Drescher und ging dann mit dem alten Mütterlein in den Wald hinaus. Dieses führte ihn durch dichten und dünnen Wald, bis sie ins Freie kamen, dann sagte sie zum Bübchen: »Verspäte dich in Zukunft nicht mehr im Wald, denn es könnte dir schlechter gehen als dieses Mal.«

Das Bübchen dankte der kleinen Frau und lief dann über Stock und Stein in die Heimat. Seitdem verspätete es sich nie mehr und kam immer zur rechten Zeit nach Hause.


(mündlich in ganz Deutsch-Tirol)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 121-123.
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