1. Die Spinnerin am Kreuz.

[34] Dicht bei Wien, wenn er die Vorstadt Landstraße hinter sich hat, erblickt der Wanderer auf dem Rücken des Wienerberges ein steinernes Denkmal von ziemlich hohem Alter und schöner, künstlicher Arbeit. Es ist eine verzierte gothische Kreuzsäule, die von allem Volke die »Spinnerin am Kreuz« genannt wird. Mancher fromme Pilger verrichtete dort und verrichtet noch an dem Gnadenbilde seine Andacht, sey es, daß er dem reizenden Wien Valet und Lebewohl für lange Zeit sagte, sey es, daß er, heimkehrend, mit höher klopfender Brust die mächtige und geliebte Heimathstadt in ihrer ganzen Schöne entfaltet vor Augen liegen sieht.

Vor Zeiten stand an dieser Stelle nur ein einfaches Holzkreuz, dem Verfall nahe; nun wohnte in geringer Ferne davon eine arme, aber fromme Frau, welche täglich bei dem Kreuze betete; diese nahm sich's sehr zu Herzen, daß das Kreuz den Einsturz drohte,[34] und beschloß, zu Ehren Gottes das Kreuz zu erhalten oder ein neues aufrichten zu lassen.

Die fromme Frau setzte sich nun Tag für Tag mit ihrer Spindel an das Kreuz und spann und spann, sprach auch die des Weges Ziehenden um ein Gabe an für das Kreuz, die aber meist gar gering ausfiel. Und was sie erbat und erspann, das legte sie, sich zur Fristung ihres eigenen Lebens nur auf das Allernothwendigste beschränkend, Alles zurück. Die Reisenden allzumal wurden des Anblicks der Armen so gewohnt, daß sie von ihnen nur die Spinnerin am Kreuz genannt wurde. Allmählig mehrte sich das zurückgelegte Geld, das die Spinnerin in treue Hände niederlegte, so daß das gegenwärtige Denkmal fast ausschließlich vom Fleiß ihrer Hände erbaut werden konnte. Freudig sah sie das Steinkreuz sich erhöhen mit seinen Figuren und Zierrathen, und als es nun vollendet war, da spann sie nicht mehr, betete aber um so brünstiger dort, und entschlummerte für das ewige Leben zu des Kreuzes Füßen.

Zum Gedächtniß dieser Frommen nennt man nun noch das Denkmal nach ihr: Die Spinnerin am Kreuz.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 34-35.
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