2. Die Spinnerin am Kreuz.
Zweite Sage.

[35] Ein Müller, Spiner mit Namen, stand nahe beim Hochgericht auf dem Wienerberge, welches sich ohnweit der Stelle erhob, wo jetzt die »Spinnerin am Kreuz« erhöht ist, und drängte sich in die vordersten Reihen des Volkes, das einen Dieb henken sehen wollte. Der arme Sünder stand schon auf der Leiter, da hörte er ganz deutlich, daß der Müller die Worte sprach: »Ich möchte wohl wissen, wie dem dort alleweile zu Muthe ist!« Schon legte Meister Hämmling die Schlinge um des Diebes Hals, als dieser schrie: »Halt! Ich habe noch etwas zu bekennen! Ich habe noch einen Mitschuldigen!« Alles horchte auf und lauschte voller Erwartung der fernern Rede. »Der dort ist's!« fuhr der Dieb fort, hindeutend auf den erschrockenen Müller, den alsobald die Schergen und Henkersknechte anfaßten. Vergebens betheuerte er seine Unschuld. Die Hinrichtung wurde aufgeschoben und der Müller mit seinem Ankläger zu Gefängniß gebracht. Letzterer blieb bei seiner Aussage, und da man vor Alters immer sehr kurze Prozesse zu machen pflegte, so sprachen die Richter das althergebrachte[36] »Mitgegangen, mitgehangen« aus, und daß der Müller vor dem Diebe gehenkt werden sollte.

Schon legte Meister Hämmling die Schlinge um des Müllers Hals, als der Ankläger ausrief: »Halt! Ich habe noch etwas zu bekennen!« Alles horchte hoch auf und lauschte wieder voller Erwartung der fernern Rede. Da wandte sich gegen den in Todesangst zitternden Müller der Dieb und fragte ihn: »Weißt Du nun, wie Einem zu Muthe ist auf der Galgenleiter?« und zu den Richtern gewandt, sprach er: »Dieser Mann ist unschuldig! Da aber sein Fürwitz darnach verlangte, zu wissen, wie Einem sey, der auf dieser Himmelsleiter steht, so hab' ich ihm zur Lehre und mir zur Lust den Spaß gemacht. Denke, er wird sein Lebetag nicht mehr hier herauf verlangen!« Der alsobald freigesprochene Müller fiel auf sein Angesicht, lobte Gott für die Offenbarung seiner Unschuld und gelobte zu ewigem Gedächtniß seiner Rettung von dem gewissen, schmählichen Tode dankbar die Errichtung einer Kreuzessäule. Dieses Gelübde hielt er, und so entstand die Denksäule, welche man nach ihm das Spinerskreuz nannte, daraus allmählig die jetzt übliche Benennung geworden seyn soll.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 35-37.
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