König Rhampsinit und der Schatzdieb.

[146] Das folgende Märchen ist uns in dem Werke des griechischen Geschichtschreibers Herodot von Halikarnaß, der etwa im Jahre 440 v. Chr. Aegypten besuchte, erhalten geblieben. Dasselbe ist in seiner Gesamtauffassung ebensowohl wie in allen Einzelheiten, die es schildert, durchweg ägyptisch, und zeigt nirgends ein Einmischen fremder, griechischer Auffassungen und Gewohnheiten. Man ist daher berechtigt, in ihm ein echtägyptisches Märchen zu sehen, das in dieser Fassung dem griechischen Reisenden von seinem Fremdenführer oder seinen aus ägyptischer Quelle schöpfenden, am Nile ansässigen Landsleuten erzählt worden ist. Herodot hat es sorgsam aufgezeichnet und seiner Schilderung Aegyptens einverleibt, dabei freilich den Irrtum begangen, daß er nicht erkannte, daß es sich um ein Märchen handelte; er hat in ihm einen wahrheitsgetreuen Bericht geschichtlicher Begebenheiten aus der Zeit um 1200 v. Chr. sehen wollen.


* * *[147]


Der König Rhampsinit besaß so ungeheure Schätze, daß ihm darin kein späterer König nahe kommen oder ihn gar übertreffen konnte. Um diesen Besitz mit Sicherheit aufbewahren zu können, ließ er an seinen Palast ein steinernes Gebäude anbauen, dessen eine Seite nach außen hin frei lag. Hierauf baute der Baumeister seinen Plan, er richtete einen der Steinblöcke so ein, daß er mit Leichtigkeit von zwei Männern, zur Not auch schon von einem, herausgenommen werden konnte. Sobald der Bau vollendet war, ließ der König seine Schätze in ihm aufspeichern. Als aber im Laufe der Zeit der Baumeister sein Ende herannahen fühlte, rief er seine beiden Söhne zu sich, und erzählte ihnen, wie listig er aus Fürsorge für ihr Wohl, damit sie reichlich zu leben hätten, bei dem Baue des Königlichen Schatzhauses verfahren sei. Er erklärte ihnen genau, wie es sich mit dem herausnehmbaren Steine verhielt, gab ihnen die nötigen Maße desselben an, und sagte ihnen, daß sie sich mit der nötigen Vorsicht als die Verwalter der Königlichen Schätze fühlen könnten. Dann starb er; die Söhne aber zögerten nicht lange. Sie machten sich bei Nacht auf den Weg zum Palaste, fanden den Stein, von dem ihr Vater gesprochen hatte, an dem Gebäude, führten ihre Absichten mühelos aus und trugen vieles von den Schätzen fort.

Als nun der König einmal zufällig das Gebäude öffnete, sah er zu seiner Verwunderung, wie Schätze aus den Gefäßen, in denen sie gestanden hatten, verschwunden waren, und wußte nicht, wem er die Schuld zuschreiben sollte, da[148] alle Siegel unverletzt waren, und das Gebäude sicher verschlossen war. Als er aber nunmehr mehrmals das Gebäude öffnete, waren jedesmal die Schätze weniger geworden, denn die Diebe fuhren in ihrer verbrecherischen Tätigkeit fort. Unter diesen Umständen suchte er sich dann endlich dadurch zu helfen, daß er Fallen herstellen ließ. Diese ließ er um die Gefäße, in denen sich die Schätze befanden, herumstellen. Als nun die Diebe, wie sie das bereits gewohnt waren, kamen, und zunächst der eine hereinkroch, wurde er, sobald er sich einem der Gefäße näherte, von der Falle gefangen. Sofort war ihm klar, in welch eine schlimme Lage er geraten sei; er rief schnell seinem Bruder zu, wie die Sache lag, und forderte ihn auf, hereinzukommen und ihm den Kopf abzuschneiden, damit sein Gesicht nicht gesehen und erkannt würde, denn dadurch wäre auch der andere Bruder in das Verderben gestürzt worden. Dieser sah ein, daß der Gefangene recht hatte, er tat also das, wozu ihn sein Bruder aufgefordert hatte. Dann fügte er den Stein wieder an die alte Stelle und ging mit dem Kopfe des Bruders nach Hause.

Als es aber wieder tagte, da trat der König in das Gebäude und erblickte den Leib des Diebes in der Falle, aber der Kopf fehlte. Da erschrak er, denn das Gebäude war unversehrt, und nirgends war ein Ausgang oder ein Eingang. In seiner Verlegenheit kam er auf den Gedanken, den Leichnam des Diebes an der Mauer aufhängen zu lassen, und bei ihm Wächter aufzustellen. Diese sollten darauf achten, ob jemand beim Anblicke des Diebes weinte oder Mitleid[149] mit dem Gehenkten hegte. Wenn sie etwas derartiges beobachteten, so sollten sie den betreffenden ergreifen und zu ihm bringen. Als aber der Leichnam dahing, da erschien das der Mutter des Diebes kaum erträglich, sie sprach mit dem überlebenden Bruder und ermahnte ihn, auf ein Mittel zu sinnen, dessen Anwendung es ihm möglich machen würde, den Körper des Bruders abzuschneiden und nach Hause zu bringen. Sie drohte, wenn er sich nicht darum kümmere, so werde sie zum Könige gehen, und ihn als den Besitzer der Schätze angeben.

Als nun die Mutter den überlebenden Sohn so hart anfaßte und er sie, so viel er auch gegen ihr Verlangen einwenden mochte, nicht eines besseren überzeugen konnte, da dachte er sich folgendes aus: Er machte seine Esel zurecht und füllte Schläuche mit Wein, dann lud er diese auf die Esel und trieb die Tiere vorwärts. Als er nun bei den Wächtern des aufgehängten Leichnams angelangt war, nahm er zwei oder drei herabhängende Enden der Schläuche und öffnete dieselben. Als aber der Wein herausfloß, da schlug er sich auf den Kopf und schrie laut, als wisse er nicht, zu welchem Esel er sich zuerst wenden solle. Als aber die Wächter den Wein in Menge auslaufen sahen, da liefen sie zusammen mit Gefäßen auf die Straße heraus und sammelten sich von dem ausgeflossenen Wein, um ihn sich selbst anzueignen. Der Mann aber stellte sich zornig und schalt auf sie alle. Die Wächter aber redeten ihm gütlich zu, und nach einiger Zeit stellte er sich auch beruhigt und hörte mit seinen Zornausbrüchen auf. Zuletzt[150] trieb er die Esel aus dem Wege und brachte sie wieder in Ordnung.

Als die Wächter nun mit dem Manne in ein längeres Gespräch gekommen waren und einer ihn verspottete und zum Lachen zu bringen suchte, da überließ er ihnen einen von seinen Schläuchen. Sie aber ließen sich, wie sie da waren, nieder und wollten zu trinken anfangen; dazu nahmen sie ihn zu sich und forderten ihn auf, bei ihnen zu bleiben und mit zu trinken. Er aber ließ sich überreden und blieb da. Da die Wächter nun während des Gelages sehr freundlich gegen ihn waren, so überließ er ihnen noch einen andern von seinen Schläuchen. Die Wächter aber wurden von dem reichlichen Trinken vollständig betrunken, sie wurden vom Schlafe überwältigt und schliefen da, wo sie getrunken hatten, ein. Er aber band, da es bereits tief in der Nacht war, den Körper seines Bruders los, und schor zum Spott allen Wächtern die rechten Backen. Dann legte er den Toten auf die Esel und trieb diese fort nach Hause. Damit hatte er das vollbracht, was ihm seine Mutter aufgetragen hatte.

Als aber dem König gemeldet wurde, daß die Leiche des Diebes gestohlen worden sei, da war ihm das sehr unangenehm. Da er auf alle Weise herausbekommen wollte, wer es gewesen wäre, der diese Tat ausgesonnen hätte, so tat er folgendes, was mir (Herodot) freilich nicht glaublich erscheinen will: Er ließ seine Tochter sich in einem öffentlichen Hause hinsetzen und befahl ihr, jedermann in gleicher Weise aufzunehmen, ihn aber, ehe er sich ihr nahen durfte, zu zwingen,[151] ihr die klügste und die gottloseste Tat zu erzählen, die er in seinem Leben vollbracht hätte. Wenn aber ein Mann käme, der die Begebenheiten mit dem Diebe berichte, dann solle sie ihn ergreifen und nicht aus dem Gemache herauslassen.

Die Tochter tat das, was ihr ihr Vater befohlen hatte, der Dieb aber merkte sehr wohl, warum das alles geschehe und beschloß, den König listig zu betrügen. Zu dem Zwecke tat er folgendes: Er schnitt einem frischen Leichnam den Arm an der Schulter ab, nahm ihn unter sein Gewand und ging zu der Prinzessin. Als er nun bei der Königstochter eingetreten war und ihn diese gerade so, wie alle anderen Besucher, befragte, da sagte er, das Gottloseste, was er getan habe, sei gewesen, daß er seinem im Königlichen Schatzhause gefangenen Bruder den Kopf abgeschnitten habe. Das Klügste aber, was er getan habe, sei gewesen, daß er die Wächter betrunken gemacht und die aufgehängte Leiche seines Bruders abgebunden habe. Als das die Königstochter hörte, griff sie nach ihm. In der Dunkelheit streckte ihr aber der Dieb die Hand des Leichnams hin, sie ergriff dieselbe, und hielt sie in der Meinung, es sei die Hand des Diebes, fest. Der Dieb aber ließ ihr die Totenhand und entfloh eiligst durch die Türe.

Als dem Könige auch dieses gemeldet wurde, geriet er über die Verschlagenheit und den Wagemut dieses Menschen noch mehr in Erstaunen. Er schickte in alle Städte Boten und ließ ihm Straflosigkeit zusagen und große Versprechungen machen, wenn er ihm persönlich vor Augen treten würde. Der Dieb schenkte[152] ihm Vertrauen und kam zu ihm. Rhampsinit aber bewunderte ihn sehr und gab ihm als dem klügsten aller Menschen seine Tochter zur Frau. Denn nach Ansicht des Königs zeichneten sich die Aegypter vor den übrigen Menschen durch Klugheit aus, er aber übertreffe darin die übrigen Aegypter.

Quelle:
Wiedemann, Alfred: Altägyptische Sagen und Märchen. Leipzig: Deutsche Verlagsactiengesellschaft, 1906, S. 146-153.
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