Hunderteinunddreißigste Geschichte

[122] geschah an einem Mann, der hört von seinem Weib, wie sie ihr Tochter straft, denn sie war eine öffentliche Temee (Hure). So hört der Mann wie sie ihre Tochter straft un sie sagt also: »Meine Tochter, nit sei also eine offenbarliche Hur, tu auch, wie ich getan hab. Ich bin eine Hur gewesen un hab zehn Kinder gehabt. So sind neun Kinder eitel Mamserim (Kinder aus verbotenem Umgang) gewesen, die ich mit anderen hab gehabt, un hab nit mehr als einen Sohn mit meinem rechten Mann gehabt. Un mein Mann hat doch nix dervon gewußt. Un heimlich bin ich eine Hur gewesen. So sollst du auch heimlich eine Hur sein.« Un der gute Mann hat nebbich alles gehört, wie sein Weib hat geredet. Un das tät ihm gar weh, un durft sich doch nix annehmen, da sie sein Weib war Esches Isch geworden. Un der Mann bekümmert sich so gar hart, daß er vor Leid krank ward un sterben mußt. Da läßt er zurück: all mein Gut soll nit mehr als einer von meinen Kindern erben. Un sagt aber nit welcher Sohn es erben sollt. Un also sturb der gute Mann. Un wie er nun tot war, da wollt ein jeglicher den Mammon alleint erben. Un so kamen sie vor Rabbi Benoe, der war der Rosch Jeschiwe (der Oberste des Lehrhauses) zu derselbigen Zeit, er sollt machen, welcher den Mammon sollt erben. Da sagt der Rabbi wieder zu ihnen: »Das is eine schwere Sach, un die Sach is vor mir verhohlen, un ich bin kein Nowi (Prophet), daß ich sollt wissen, welchen euer Vater gemeint hat. Doch tut ihr eines, un geht all miteinander auf eures Vaters Kewer (Grab) un nehmt ein jeglicher einen Stein in die Hand[122] un klopft auf euer Vaters Kewer, un sprecht wider ihn: ›Lieber Vater, sag uns, welcher dein rechter Sohn is, der deinen Mammon soll erben.‹ Un das tät der Rabbi darum, daß er sie wollt versuchen, ob sie es tun wollten, daß sie so eine Aseskeit (Frechheit) würden an ihrem Vater brauchen. Un dadurch wird er derkennen, welcher der rechte sein wird. Un der das nit tun wird, der wird der rechte Sohn sein.« Also geschah es auch. Da gingen sie alle von dem Rabbi auf des Vaters Kewer mit Steinen, sonder einem, der wollt nit gehn. Der sagt: »Was gedenkt ihr euch, daß ihr unserem Vater so eine große Charpe (Schande) unter der Erd wollt antun? Ich will auf das Kewer nit gehn, all sollt ich wissen, daß ich kein Pfennig von meines Vaters Gut sollt erben.« Da merkte der Rabbi wol, daß der war der rechte Sohn, un sagt: »Der soll das Mammon gar erben, den hat euer Vater gemeint.« Un mit der Chochme (List) bringt der Rabbi das zu wegen, daß er war gewahr, welcher der rechte Sohn war. Denn was von Natur is, das hat nit im Herzen, daß es seinem eigenen Vater so eine große Charpe sollt antun. Sonder was Hurenkinder sind, die frägen nix dernach un machen einem Schande, wenn er schon im Kewer liegt.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 122-123.
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