Zweihundertfünfte Geschichte

[239] geschah an einem Menschen, der hat geheißen bar Schebur. Nun, es war ein Joßem (Waise) in seiner Stadt, der hat eine Pilzel (Jungfrau) entspust (verlobt) zu einem Weib. Un derselbige Joßem ließ die Pilzel sieben Jahre gehn, daß sie nit konnten miteinander unter die Chuppe (zur Trauung) gehn vor großer Armut. Da nahm der ben Schebur den Choßen (Bräutigam) un Silber un Gold un allerlei gute Speis zu sich, un ging fünfzehn Tagreisen weit, ehe er in dieselbige Stadt kam. Da bracht er Choßen un Kalle (Bräutigam un Braut) zusammen um[239] in Gottes Namen die Broche (den Trausegen) zu machen, un dernach gingen sie in Frieden unter die Chuppe. Un die Hochzeit währt sieben ganze Tage. Da nun der Chossid wollt wieder heim ziehn, da kam er an einen hohen Berg un auf dem Berg stund das schönste Obst, das man in der ganzen Welt finden möcht. Un welcher Mensch, der vorbei wollt gehn, der mußt sterben, denn es lagen da allerlei böse Würmer un auch Ungeheuer derbei un alsobald daß sie einen Menschen schmecken (riechen), da töteten sie ihn. Un lag auch derbei ein großer Drach. Un der gute Mann, der ben Schebur, der ging über den Drachen her, denn er meint es wär ein Bock. Un wie er nun über den Drachen war gekommen, da begegnet ihm ein Mann, der war gar nit hübsch von Gestalt. Das war der Malach hamowes (Todesengel). Da fragt ihn der Malach hamowes: »Wer bist du?« Da sprach der ben Schebur: »Ich heiß ben Schebur mit meinem rechten Namen.« Da fragt ihn der Malach hamowes: »Wo kommst du her, oder wo willst du hingehn?« Da sprach der ben Schebur: »Ich bin gewesen in einer Stadt wol fünfzehn Tagreisen von hinnen. Un bin mit einer armen Waise gezogen un hab ihm ein Weib gegeben. Un hab ihm die Breiluft auf meine Unkosten gemacht, un hab ihm derzu viel Silber un Gold geben.« Da sprach der Malach hamowes: »Weist du wol, daß ich bin jetzund auf dem Weg, daß ich dir deine Neschome (Seele) soll nehmen? Denn deine Zeit is kommen, daß du sterben sollst.« Wie nun ben Schebur die Rede hört vom Malach hamowes, da hebt er auf seine Hände gegen den Himmel un betete un sagt: »Herr all der Welt, es steht doch in deiner heiligen Thauroh geschrieben, daß der da hat eine Mizwe (Guttat) unter der Hand, der wird nit geschädigt un geschieht demselbigen nix Böses. Un ich bin nach der Mizwe viel manche Meile Wegs gezogen. Un hab auch für Zdoke (Almosen) viel Geld geben eh ich bin da her gekommen. Hilft mir denn das Guttun als nix, das ich dasmal hab getan? Un soll auf dem Weg so gar jämmerlich sterben. War ich neiert daheim bei meinem Gesind, daß ich Zewoe (meinen letzten Willen) tät, wie sie sich sollten halten nach meinem Tod.« Da kam ein Stimm vom Himmel herab un sagt: »Ben Schebur, du hast noch fünfzehn Tag Zeit eh du sterben sollst. Daß du noch wol heimkommen kannst zu deinem Hausgesind. Un kannst bestimmen, wie sie sich sollten halten nach deinem Tod.« Un wie er solches hört, da war er gar froh un ging also vor sich un kam in eine große Stadt. Un unter dem Tor begegnet ihm ein Mann. Da frägt ihn der ben Schebur ob nit Lerner in der Stadt wären. Da sprach der Mann: »Ja, es sind viel Lerner hie, un hätt auch einen Rosch Jeschiwe (Obersten des Lehrhauses) hie, der is ein köstlicher Mann. Un mit seinem Namen heißt er Rabbi Schpipon von Lisch. Oder ein Teil Leute sagen er heißt Ben Lisch. Un der hat viel[240] tausend Talmidim (Schüler), die von ihm lernen.« Da sprach der ben Schebur: »Lieber Sohn, führ mich zu dem Rabbi Schpipon in sein Cheder (Schule).« Un wie nun der ben Schebur zu dem Rabbi Schpipon kam, da leuchtet dem ben Schebur sein Ponim (Angesicht) gleich wie die Lewone (Mond). Da das der Rabbi Schpipon sah, da stund er auf mit seinen Talmidim un empfängt ihn, un heißt ihn setzen. Un wie sie nun eine Weile beieinander gesessen haben, so ward dem ben Schebur sein Angesicht gar bleich. Da das der Rabbi Schpipon sah, da frägt er den ben Schebur, was ihm mangelt. Ob er auch eppes essen oder trinken wollt. »Oder gebricht dir sonst eppes.« Also hebt der ben Schebur an un sagt dem Rabbi die Geschichte, wie es ihm mit dem Malach hamowes gegangen war. Da sprach der Rabbi: »Setzt ihr euch neiert ein Neder (Gelübde) bei mir, un habt keine Sorge, denn desthalben wirst du nit sterben, ich will dir Orew (Bürge) dervor sein.« Da sprach der ben Schebur wider den Rabbi: »Wie willst du mir Orew dervor sein? Steht doch geschrieben, es hilft kein Geld noch Gut.« Da sprach der Rabbi Schpipon wider ben Schebur: »Sorg du nit, du sollst dasmal nit sterben. Ich will dich von deinem Tod dasmal derlösen.« Un der ben Schebur setzt sich zum Rabbi un hebt an un lernt Thauroh vierzehn ganze Tage, daß keiner von dem andern kann. Nun, es kam an einem Freitag, da ward es gar finster gegen den Rabbi Schpipon. Da sprachen seine Talmidim: »Lieber Rabbi, wie geht es zu, daß es so geschwind finster wird?« Da sprach der Rabbi wider seine Talmidim: »Geht hinaus un seht ob es draußen auch so finster is.« So kamen die Talmidim wieder un sagten: »Lieber Rabbi, es is nirgenst so finster als hinnen in euerem Bethhamidrasch (Lehrhaus).« So ging der Rabbi hin un hebt an un tat Tefille (betet). Denn er gedacht wol, es wird nit gut sein auf des ben Schebur Seite. Da kam der Malach hamowes (Todesengel) un zeigt sich dem Rabbi Schpipon un sprach wider ihn: »Gib mir her den Pikodaun (Pfand), den du bei dir hast, denn es is die Zeit kommen, daß der ben Schebur sterben muß.« Da beschwor der Rabbi Schpipon den Malach hamowes, daß er mußt von ihm hinweg gehn. Da ging der Malach hamowes vor den Heiligen, gelobt sei er, un sagt: »Herr all der Welt, der Rabbi Schpipon will mir nit den ben Schebur geben, daß ich ihm seine Neschome soll nehmen.« Da sprach wider der Heilige, gelobt sei er: »Geh du wieder zu Rabbi Schpipon un sag ihm, er soll dir den ben Schebur geben oder er soll vor ihm sterben. Un frag ihn ob ihm sein Leben nit lieber is als den ben Schebur Leben.« Da niedert der Malach hamowes wieder zu Rabbi Schpipon un sagt ihm, wie der Heilige, gelobt sei er, hat selbert geredet. Da sagt Rabbi Schpipon wieder zu dem Malach hamowes: »Nein, mein Leib is mir nit lieber als des ben Schebur sein Leib. Derhalben geh du wieder zu dem Heiligen, gelobt sei er, un sag ihm, will[241] er einen Toten, so soll er den andern auch töten, denn wir beide haben ein Schwue (Gelöbnis) getan, daß keiner von dem andern scheiden soll.« So ging der Malach hamowes wieder zu dem Heiligen, gelobt sei er, un sagt ihm wie der Rabbi Schpipon gesagt hat. Un alsobald der Malach hamowes weg war, da stund Rabbi Schpipon un tät große Tefille (Gebete), so lang bis sein Gebet von dem Heiligen, gelobt sei er, derhört war un wol angenehm war. So ging ein Stimm aus vom Himmel un sagt: »Was ich hab verhängt auf ben Schebur, daß er hat sollen sterben, un die zwei Zaddikim mit ihren Gebeten verstören mir mein Gebot. Un von wegen ihrem großen Zdokegeben (Almosengeben) muß ich derlängen ihr Leben.« Un der Heilige, gelobt sei er, derlängt den zweien, Rabbi Schpipon un ben Schebur jeglichem ihr Leben zweihundert Jahr. Un wie die zwei lebten da war kein Hunger im Land. Un es sturb kein Kind vor seinem Vater. Un keine Frau gewann ein unzeitiges Kind. Un da nun die zwei Zaddikim sturben, da kam Hunger ins Land. Da stund auf ein Rabbi, der hieß Rabbi Tanchume, der gebot Tanis (Fasttage) halten. Un tät große Buße un Gebet vor dem Heiligen, gelobt sei er: »Allmächtiger Gott, wir sind ja Kinder deines Sohnes Iizchok, deines Freundes, Kinder von Awrohom deines Ausgewählten, Kinder von Jakew, dem Ganzen un dem Frommen.« Un täten so lang beten vor dem Heiligen, gelobt sei er, bis sein Gebet auch derhört is worden. Un ließ den Hunger aufhören.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 239-242.
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