Vierundsechzigste Geschichte

[56] geschah: Die Rabbonim haben gelernt: Ein Armer un ein Reicher die waren alle beide kommen auf Jene Welt vor den Heiligen, gelobt sei er, lejaum hadin (zum Tage des Gerichtes). Da wird man sagen zu dem Armen: »Sag an, warum hast du nit Thauroh gelernt auf der Welt, wo du bist gewesen?« Da wird der Arme sagen: »Lieber Herr Gott, ich bin gar zu gemüht gewesen mit meiner Armut un meiner Nahrung, daß ich nit derfür hab können Thauroh lernen.« Da antwortet man ihm wieder: »Bist du denn ärmer gewesen als Hillel?« Denn man hat gesagt auf den alten Hillel, alle Tag hat er ein Schilling verdient, da gab er die Hälfte dem Schaumer (Wächter) der über dem Bethhamidrasch (Bethaus) gesetzt is gewesen, un die andere Hälfte hat er sich mit seinem Weib un Kinder gespeist un hat doch Thauroh derbei gelernt. Eines Tages einmal so hat er niks können verdienen. So hat ihm der Schaumer nit wollen ins Bethhamidrasch hinein lassen. Warum? Er hat ihm niks gehabt zu Lohn zu geben. Man hat dem Schaumer alle Tag eppes geben, wer in dem Bethhamidrasch hat wollen hinein gehn. Da ging er auf das Dach un legt sich auf ein Fenster derwartend, daß er könnt hören die Thauroh, die ausging aus dem Maul von Schmaje un Awtaljon den selbigen Tag. Da war es eben Erew Schabbes (Freitag) un war eben Tekufaus Tewes (Sonnenwende im Monat Tewes). Un es fiel ein großer Schnee auf ihn un der Schnee deckte ihn ganz zu. Da es nun wieder Tag war da sagt Schmaje zu Awtaljon: »Mein lieber Bruder, alle Tag is das Haus gar hell gewesen un heint (heute) dieser Tag is es gar finster, vielleicht is heint ein tunkerer Tag.« Da sahen sie über sich. Da sahen sie ein Gestalt eines Menschen oben im Fenster liegen. So gingen sie hinauf auf das Dach. Da fanden sie den alten Hillel un daß drei Ellen hoch war der Schnee auf ihm liegen. So täten sie den Schnee von ihm hinweg un setzten ihn in ein warm Bad un schmierten ihn un setzten ihn bei das Feuer. Da sprachen die Leut: »Da der dasige ein Mann is, is es billig, daß man über ihn soll mechallel Schabbes sein (den Schabbes verletzen). Darmit hat der Arme keine Verantwortung, daß er die Thauroh nit hat können lernen. Denn wenn einer schon arm is, da kann er doch wol Thauroh lernen.« Darnach spricht man zu dem Reichen lejaum hadin: »Sag her weshalben hast du nit Thauroh gelernt?« So tut der Reiche sagen: »Ich bin reich gewesen, un[56] bin gemüht gewesen mit meinen großen Assokim (Beschäftigung) und hab nit der Weil gehabt zu lernen Thauroh.« Da sagt man wieder zu ihm: »Du bist ja nit reicher gewesen als Elosor ben Charssem, denn man sagt auf ihn, daß sein Vater hat nach seinem Tod gelassen tausend Städte auf der Trockenis un desgleichen tausend Schiff auf dem Jam (Meer) un is doch hingegangen alle Tag un hat sich ein große Masse (Last) aufgeladen un is gangen von einem Land zu dem andern un hat Thauroh gelernt.« Ein Tag begegnet ihm sein Knecht einer un kennt ihn aber nit un sprach zu dem Rabbi Elosor: »Du muß heut einen Tag arbeiten für deinen Herrn Rabbi Elosor.« Da sprach er zu ihm: »Ich bitt dich, laß mich gehn, denn ich muß Thauroh lernen.« So sagt der Knecht wider zu ihm: »So wahr, als da lebt Rabbi Elosor ben Charssem, ich laß dich nit gehn.« Da gab er all das Geld, daß er bei ihm hat, daß er ihn gehn ließ, un wollt sich nit zu derkennen geben, daß er der Rabbi Elosor ben Charssem war. Denn warum? Daß er konnt Thauroh lernen. Un all sein Tag hat er seines Vaters Gut, noch Städt, noch Schiff nit gesehen, neiert er is gesessen un hat Thauroh gelernt. Zu dem Rosche (Bösewicht) spricht man auch lejaum hadin: »Sag du her, warum hast du nit Thauroh gelernt?« Da wird er sprechen: »Ich bin hübsch gewesen un der Jezerhore (der böse Trieb) hat mich verwirrt gemacht, daß ich nit hab können lernen.« Da spricht man zu ihm: »Hast du denn mehr Jezerhore bei dir gehabt als der fromme Jossef, dem alle Tag is Potiphars Weib hingegangen, un hat ihm geschickt schöne Kleider, daß er sie hat sollen ankleiden. Die Kleider, die er zu morgens angetan hat, die hat er nit zu abends angehabt, un die Kleider, die er zu abends hat angehabt, die hat er nit zu morgens angehabt. Denn hübsche Kleider, die bringen einem zum Jezerhore.« Da hat sie zu ihm gesagt: »Hör mir zu, un lieg bei mir.« Da hat er wider gesagt: »Nein, ich lieg nit bei dir.« Da hat sie gesagt zu ihm: »Lieg bei mir, oder ich laß dich einkerkern.« Da hat Jossef wider zu ihr gesagt: »Gott derledigt, die da gefangen sind.« Da hat sie wider gesagt: »Ich will dir dein Hoch lassen nieder machen.« Da hat er wider gesagt: »Gott richtet auf die Gebückten.« Da sprach sie wieder: »Ich will dir deine Augen lassen ausstechen.« Da sagt Jossef wider: »Der Heilige, gelobt sei er, der öffnet dem Menschen seine Augen, derwegen lieg ich nit bei dir. Der Heilige, gelobt sei er, kann mir wol beistehn.« Da gab sie ihm tausend Zentner Silber, er sollt bei ihr liegen. Da wollt er doch nit bei ihr liegen. Das is, wie die Schrift sagt: »Un nit er wollt hören zu ihr, daß er wollt bei ihr liegen.« Damit hat der Rosche (Bösewicht) auch keine Verantwortung. Da wird gefunden, daß der alte Hillel, der macht chajew (schuldig) die Armen, Rabbi Elosor, der macht chajew die Reichen, der fromme Jossef der macht chajew die Reschoim[57] (Sünder). Derhalben soll ein jeglicher an der Thauroh gewarnt sein, da kommt er nit in das Gehinnem (Hölle) hinein.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 56-58.
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