[305] Dschahis war in seine Stiefmutter verliebt, die eben so schön und dumm, als er geistreich und häßlich war. Um sie willfährig zu machen, ersann er folgende List: Er brachte ihr einen Brief von ihrem Vater, der sie zu sich einlud, weil er auf dem Todbette läge, und sie noch einmal zu sehen wünschte. Dschahis trug sich an, sie zu begleiten, und sein Antrag ward angenommen. Sie schnürte ihren Bündel, und Dschahis machte sich unterdessen fort, um auf der Straße, worauf die Reise gieng, an gewissen Orten Lebensmittel zu vergraben. Am folgenden Morgen ward die Reise angetreten. Sie waren schon[305] eine zeitlang in der größten Hitze geritten, als die Stiefmutter einige Erfrischung verlangte. Dschahis entschuldigte sich, er habe darauf vergessen einige mitzunehmen, sie müsse also Geduld haben bis zum nächsten Dorfe.
In diesem Augenblicke flog ein Rabe krächzend vorüber. O du Lügner! schrie Dschahis. – Wen schiltst du einen Lügner? fragte die Stiefmutter. – Diesen Raben, der mir weis machen will, unter jenem Baume seyen Fische, Brod und Limonien vergraben. – Wie verstehst du denn das? – O, ich habe gar viel studiert, wiewohl ich noch jung bin. Durch Zufall habe ich eine Grammatik und ein Wörterbuch der Vögelsprache gefunden, und verstehe sie nun so ziemlich. Die Frau, die sehr hungrig war, dachte, der Rabe könnte doch wahr geredet haben, und bat ihren Begleiter, Halt zu machen und nachzugraben unter dem Baume. Sie fanden Fische, Brod und Limonien, und die Stiefmutter betrachtete ihren Sohn als einen großen Gelehrten.
Nachdem sie eine Weile weiter fortgezogen waren, flog ein andrer Rabe krächzend vorüber. Ey, du Erzlügner! rief Dschahis. – Mein lieber Herr Sohn! sagte die Frau, was spricht er denn? man muß dies ehrliche Volk nicht so leicht Lügen schelten. – Wenn wir ihm Glauben beymessen sollten, sprach Dschahis, so fände sich dort unter jenem Baume einen Braten und eine Pastete. Die Stiefmutter drang[306] darauf, Halt zu machen, und sie fand alles richtig, wie es der Rabe gesagt hatte. Sie glaubte, ihr Sohn sey ein großer Heiliger, und küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hände. – Sie hatte sehr gut gespeiset, aber nichts zu trinken gehabt, und hätte vor Durst vergehen mögen. Bald darauf krächzte ein andrer Rabe. – Ey, du Spitzbube! rief Dschahis. – Lieber Herr Sohn! thu dem ehrlichen Gesichte kein Unrecht; glaube mir, diese Raben sind Apostel der Wahrheit. Was sagt er denn? – Dort unter jenem Baume seyen Flaschen mit Wein und Sorbet vergraben. Es war richtig so; sie tranken vom besten Weine und lagen noch hingestreckt im hohen Grase, als ein vierter Rabe über ihren Köpfen krächzte. – Ey, du schändlicher Lügner! ey, du gottloser Betrüger! schrie Dschahis ganz erbost. – Verleumde nicht so den guten Raben, sagte die Stiefmutter, seine Worte sind ja richtig und wahr, wie der Koran. Was sagt er denn? – O, ich schäme mich, es nur zu wiederholen, wiewohl ein großes Unglück mit im Spiele ist. – Dschahis weigerte sich lange, und stellte sich sogar, als ob er weinte aus Schaam und Betrübniß. Endlich, auf vieles Bitten, rückte er mit der Sprache heraus: Wenn du, liebste Frau Stiefmutter, so sagt der Rabe, mich nicht auf der Stelle umarmest, so stirbt in diesem Augenblicke dein Vater und dein Kind. – Was war zu thun? an der Glaubwürdigkeit des Raben war es unmöglich zu zweifeln. [307] Dschahis behauptete zwar, es schicke sich nicht; je mehr er sich aber weigerte, desto dringender bat ihn die Stiefmutter, das Leben ihres Vaters und ihres Kindes zu retten. Sie küßte ihm Hände und Füße, und gab nicht nach mit Bitten, bis er sie dreymal umarmt hatte.