C. Der Katze Schellen anhängen.

[145] Eine weitverbreitete Fabel erzählt, daß die Mäuse einst beratschlagten, wie sie es wohl angreifen sollten, um den Nachstellungen der Katze besser zu entgehen. Bei Boner, der die älteste deutsche Fassung gibt, heißt es von den Mäusen (Vers 19 ff.):


si rieten alle ûf einen sin,

wie si wol möchtin komen hin,

und vor der katzen zorn genesen.

si muosten alle in sorgen wesen;

grôz was der katzen gewalt.

der miusen rât was manigvalt.

ze jungest kâmens über ein

mit gemeinem râte, daz ir ein

sölt der katzen henken an

ein schallen, die si sölte hân

und tragen, einzeklîch dur daz,

daz si sich möchtin deste baz

gehüeten vor der katzen list.

dô antwurt in der selben vrist

ein altiu mûs, und sprach alsô:

»des râtes sîn wir alle vrô!

der rât mag uns wol troestlîch wesen;

wil got, wir mugen al genesen.

râtent, und koment über ein,

wel under uns diu sî allein,

diu daz getürre wol bestân,

daz si der katzen henken an

welle die schallen (daz dunkt mich guot);

sô wirt gevrîget unser muot,

und mugen âne sorge leben.«

enkein mûs wolt sich selber geben

an den tôt. ân ende stât

und âne nutz der miusen rât ....


  • Literatur: Boner, Der Edelstein Nr. 70 (hrsg. von Fr. Pfeiffer, Lpz. 1844).

Die Pointe dieser Fabel taucht zum erstenmal im altsyrischen Kalilah und Dimnah auf2, mag aber schon damals uralt gewesen sein. Boners Quelle war Odos 26. Fabel3 de muribus et cato; aus dieser ist vermutlich auch ein lateinisches Gedicht abgeleitet, das von Robert4 aus einer Pariser Handschrift des 14. Jahrhunderts abgedruckt worden ist. In England ist[145] die Fabel noch öfter erzählt worden5, in Deutschland in einem bispel des Königs vom Odenwald.6 Im 16. Jahrhundert kehrt sie bei Arlotto7, Pauli und Hans Sachs wieder8 und ist auch in einem Nürnberger Bilderbogen benutzt, der einen Kupferstich »Der Maus und Katzenkrieg« widergibt.9 Schließlich finden wir sie bei Eyring wieder, recht ungeschickt an den Schwank von dem verlorenen Dokument der Hunde angehängt10, und bei La Fontaine 2 fab. 2.11 Auch in jungen volkstümlichen Aufzeichnungen kommt das alte Motiv gelegentlich vor, schließt jedoch in den meisten Fassungen12 ohne eine Ätiologie. Findet sich eine solche trotzdem in einzelnen Varianten, so ist sie stets der erweiterten und veränderten Handlung locker angehängt. Freilich braucht sie nicht immer derart an den Haaren herbeigezogen zu sein, wie es in der unten abgedruckten finnischen Glockenblumensage, einem Schulbeispiele für willkürliche Ätiologie, der Fall ist.


1. Slowenische Variante.


Einst versammelten sieh die Mäuse auf einem Felde in einer hohlen Weide, um ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu besprechen, und verfaßten eine Urkunde, die von allen unterfertigt wurde, und in welcher der Beschluß niedergeschrieben stand, der Katze solle eine Schelle um den Hals gehängt werden, damit man schon von weitem ihr Herannahen merke. Selbstverständlich gaben alle ihre Zustimmung. Nun rückte der entscheidende Augenblick heran, wo man der Katze die Schelle umhängen sollte, und da sprach ein Mäuslein: »Ja, aber wer von uns wird denn die Schelle der Katze umhängen?« – Plötzlich sprang unter sie eine Katze und ergriff einige Mäuse, während die übrigen nach allen Seiten auseinanderstoben. Seit jener Zeit fürchten sich die Mäuse so sehr vor der Katze, daß sie es überhaupt nicht mehr wagen, gegen sie einen Beschluß zu fassen.


  • Literatur: Krauß, Sagen und Märchen 1 Nr. 19 = Kres 6, 146 Nr. 75. Aus Varaždin.

2. Aus Frankreich.


Einstmals gelang es den Ratten durch Überrumpelung die Katze eine Schelle, die in einem Stück Fleisch verborgen war, verschlucken zu lassen. Seitdem, sobald die Katze sich aufs Feld begab, versteckten sich die Ratten, durch den Klang der Schelle in Kenntnis gesetzt, in ihren Löchern. Die Katzen, wütend, hielten eine Synode ab und beschlossen ihren Gattungsgenossen, der den Magen mit der Schelle trug, zu opfern. Ferner vergessen sie nicht, so oft sie essen, die Bissen zu schütteln, aus Furcht, noch eine Schelle zu verschlucken.


  • Literatur: Aus Villefranche-de-Rouergue, Revue des trad. pop. 9, 646 Nr. 92.

[146] 3. Aus Finnland.


In einer Großstadt hauste einst ein gewaltiger Kater. Da hielten die Mäuse einmal Rat untereinander und sagten: »Was fangen wir nur mit dem Kater an?« Und sie beschlossen, eine Glocke zu kaufen. »Die hängen wir ihm um den Hals,« sagten sie, »dann hören wir's, wenn er kommt.« Sie taten also all ihr Geld zusammen und kauften eine Glocke. Darauf ratschlagten sie weiter und sprachen: »Wer wird sie jetzt dem Kater anhängen? Er ist ein so grimmiger Kumpan, daß er alles tötet, was in seine Krallen gerät.« Doch niemand war so tapfer, daß er es hätte wagen mögen. Da erhob sich ein großer Streit unter ihnen. Der eine sagte: »Du hast mich verführt, daß ich all mein Geld dafür ausgab!« Der andere rief: »Nein, du hast es getan!« Zuletzt kaufte ihnen der Hauskobold die Glocke ab und schenkte sie einer kleinen Blume. Und seit der Zeit gibt es Glockenblumen.


  • Literatur: Dähnhardt, Naturgeschichtl. Volksmärchen Nr. 35 (aus Kaarle Krohn, Suomalaisia Kansansatuja I).

Fußnoten

1 Vgl. auch den folgenden Abschnitt.


2 Vgl. Chauvin, Bibliographie 2, 109 über die Fabel und ihre weitere Verbreitung. Ferner Revue des trad. pop. 8, 292, Mouliéras, Les fourberies p. 49 Anm. 1, Decourvemanche, Sottisier de Nasr Eddin-Hodja Nr. 148, Arlotto hrsg. von Wesselski 2, 226.


3 Vgl. Gottschick, Zeitschrift f. deutsche Philologie 11, 331.


4 Fables inédites I, 99, vgl. Gottschick ebd.


5 Wright, Th., A selection of Latin Stories p. 80, Zeitschrift f. deutsche Phil. 11, 336, Plessow, Geschichte der Fabeldichtung in England S. XXXV f. (Palaestra 52).


6 Vgl. Pfeiffer, Altdeutsches Übungsbuch S. 155 (Wien 1866).


7 Wesselski 2, 64 Nr XCIII.


8 Pauli, Schimpf und Ernst Nr. 634. H. Sachs, Fabeln und Schwanke 4 Nr. 259.


9 Vgl. Bolte in der Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde 17, 427 Anm. 1.


10 Vgl. oben S. 111.


11 Ed. Regnier 1, 133.


12 Simrock, Deutsche Märchen Nr. 69, S. 325 (Stuttg. 1864), Kern und Willms, Ostfriesland S. 69 (Norden 1869), Schulenburg, Wendische Volkssagen S. 290.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 147.
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