[286] 106. Die Erschaffung der Welt

[286] Es wird erzählt, daß im Anfang ein Tunpa war. Er machte die Erde mit dem Himmel und alle Sterne, die Sonne und den Mond. Es wird erzählt, daß diese Erde nichts trug, daß sie ganz kahl war. Tunpa setzte da allerlei Früchte hinein, um die Armen zu speisen, wie die Caraguata und die Mangara. Es wird erzählt, daß dort eine Algarrobo war, die Mutter aller Bäume. An diesem Baum waren allerlei Früchte. Dieser Baum hat sich in der ganzen Welt vermehrt. Hierauf kam Tunpa, nahm den Mutterbaum mit und ließ die Sprößlinge hier. Es wird erzählt, daß Tunpa die Voreltern von uns und auch die Voreltern der Weißen geschaffen hat. Den Ava und Chane gab Tunpa einen Holzspaten und einen langen geschnitzten Stock, Pfeil und Bogen, ein Schaf, eine Ziege, ein Huhn und einen Hund, damit sie alle diese Tiere vermehrten, und damit sie sich mit diesen Werkzeugen ernährten. Den Weißen gab er Gewehre, ein Pferd, eine Stute und eine Kuh und alle möglichen Werkzeuge aus Eisen, damit sie mit diesen arbeiteten.

Es wird erzählt, daß die kleine Viscacha diese Bäume, die vom Mutterbaum zurückblieben, beaufsichtigte. Sie hatte diese Bäume sehr gut beaufsichtigt; keine einzigen Samen hatte sie fortführen lassen. Sie hatte die Blüten gekostet, sie aber bitter gefunden, bis sie Frucht gaben. Als sie reif waren, säete sie die Samen. Als diese wieder gereift waren, säete sie diese wieder. Im folgenden Jahre hatten sie alle reife Frucht gegeben.

Aguaratunpa war zum Hause der kleinen Viscacha gekommen. Diese war eine alte Frau. Sie bot Aguaratunpa von den Früchten, die sie bewacht hatte, und er fand sie sehr gut. Er fragte, wie sie hießen. Sie erwiderte: »Diese Früchte heißen, mä'.«[287]

Als sie ihm die Früchte anbot, setzte sie sich neben Aguaratunpa, damit er kein einziges Samenkorn mitnähme. Aguaratunpa verbarg in einem hohlen Zahn eines der kleinsten Samenkörner. Als er zu essen aufgehört hatte, reichte ihm die Alte Wasser zum Mundausspülen, damit kein einziges Samenkorn zurückbleibe. Mit dem Finger untersuchte sie Aguaratunpas Mund, konnte aber kein einziges Korn finden. Wieder fragte Aguaratunpa die Frau, wie der Baum heiße, und nahm Abschied. Den Namen des Baumes nennend, setzte er seinen Weg fort. Nicht weit davon fiel Aguaratunpa, vergaß den Namen des Baumes und kehrte zu der Alten zurück, um zu fragen. Darauf setzte er seinen Weg fort. Wieder fiel er, wieder vergaß er den Namen, und wieder kam er zu der Alten zurück, um zu fragen. Da sagte sie: »Du hast etwas Samen mitgenommen,« und so untersuchte sie noch einmal seinen Mund, konnte aber nichts finden. Hierauf ging Aguaratunpa weiter, bis er zu einer offenen Ebene kam. Dort säete er den Algarrobosamen, den er mithatte. Dann zog er weit umher. Nach einigen Jahren kam er zurück und fand schon eine große Algarrobopflanze vor. Wieder zog er weit umher. Als er zurückkam, blühte die Algarrobo. Er nahm eine Blüte und kaute sie. Sie war bitter. Wieder zog Aguaratunpa in die Welt hinaus. Als er zu seiner Algarrobo zurückkam, fand er sie voll reifer Früchte. Er nahm eine Frucht auf, die auf die Erde gefallen war, und kostete sie. Sie war süß und gut. Er suchte nun nach jemand, der den Baum für ihn bewachen wollte. Er fragte zuerst einen Käfer; dieser wollte aber nicht. Dann fragte er einen kleinen schwarzen Vogel; der wollte aber auch nicht. Nun fragte er einen anderen Käfer, Tikitikiru, und dieser versprach ihm, den Baum zu bewachen. »Kommt jemand, der von deiner Algarrobo Früchte stehlen will, so will ich singen: ›Tikitikiru, tikitikiru, ko mä seramatata, tiki, tiki!‹« sagte er. Aguaratunpa war noch nicht weit gegangen, da hörte er: »Tikitikiru, tikitikiru, ko mä seramatata, tiki, tiki!« – Aguaratunpa eilte zurück. »Hier sind der Floh, die Zecke und[288] die Blattschneideameise gewesen und haben Früchte von deiner Algarrobo gestohlen!« sagte Tikitikiru. Die Zecke hatte ein großes Tragnetz mitgehabt, um die Früchte zu tragen, und die Blattschneideameise war auf den Baum geklettert, um sie abzubeißen. Aguaratunpa eilte ihnen nach. Zuerst erreichte er die Ameise. Er trat auf ihre Mitte. Darum sind alle Ameisen so schmal um den Leib. Dann nahm er die Zecke auf und trat mitten auf sie, so daß sie ganz platt wurde. Zuletzt bekam er den Floh und trat auf ihn, glitt aber aus, so daß er ihn seitwärts drückte. Darum sind alle Flöhe klein und zusammengedrückt. Tikitikiru überließ nun Aguaratunpa die Algarrobo, damit er sie selbst bewache. Er spannte seine Hängematte auf und legte sich zur Ruhe. An einem Zweig sah er noch eine Frucht, welche die Diebe zurückgelassen hatten. Aguaratunpa rief nun den Wind herbei, und dieser schüttelte den Zweig, an dem die Algarrobofrucht saß, so daß sie herunterfiel. Die Frucht fiel Aguaratunpa mitten ins Auge. Der Fuchsgott war nun tot.

Bald kamen alle Geier, um von Aguaratunpa zu essen. Sie schickten den Kolibri, um ihren großen Häuptling, den weißen Kondor, Ururuti, zu holen, damit dieser von Aguaratunpo esse.

»Hütet euch, er ist nicht tot; er stellt sich nur tot, um unsern großen Häuptling zu fangen,« sagte einer der Geier.

»Gewiß ist er tot,« sagte die Fliege und kroch unter dem Schwanz des Fuchsgottes hinein und aus einem Nasenloch heraus, durch das andere hinein und so unter dem Schwanz wieder heraus.

»Er ist nicht tot,« sagte der Geier.

»Er ist tot,« sagte die Fliege und legte Eier in Aguaratunpas Augen, so daß sie voll Würmer waren. Als der weiße Kondor kam, näherte er sich Aguaratunpa, um zu essen.

»Hüte dich, er ist nicht tot,« sagte der Geier.

»Er ist tot,« sagte die Fliege und kroch wieder unter Aguaratunpas Schwanz hinein und durch das eine Nasenloch heraus,[289] durch das andere hinein und dann unter dem Schwanze wieder heraus.

Der weiße Kondor begann nun von Aguaratunpa zu essen. Dieser fuhr auf, nahm ihn gefangen und band ihn mit einer Kette von Silber.

»Eine Herde Pferde will ich dir geben, wenn du mir die Freiheit schenkst,« sagte der weiße Kondor.

»Ich habe so viele Pferde, daß ich nicht mehr brauche,« sagte Aguaratunpa.

»Ich will dir große Felder geben, wenn du mir die Freiheit schenkst,« sagte der weiße Kondor.

»Ich habe so viele Felder, daß ich nicht mehr brauche,« sagte Aguaratunpa.

»Ich will dir meine beiden Töchter zu Frauen geben und ein Haus, in dem du wohnen kannst, wenn du mir die Freiheit schenkst,« sagte der weiße Kondor.

»Ich brauche deine Töchter nicht, denn ich habe in allen Dörfern Frauen,« sagte Aguaratunpa.

»Ich will ein ganzes Haus mit silbernen Schalen füllen und es dir geben, wenn du mir die Freiheit schenkst,« sagte der weiße Kondor.

»Ich habe so viel Silber, wie ich brauche,« sagte Aguaratunpa, »und ich habe dich gefangen, um dich zu töten. Kannst du mir aber den weißen Gummiball schenken, damit ich damit spielen kann, so will ich dir die Freiheit schenken,« sagte Aguaratunpa.

An eine lange silberne Kette gebunden, flog Ururuti, um den weißen Gummiball zu holen. Als Aguaratunpa ihn bekam, schenkte er dem weißen Kondor die Freiheit. Der Strauß und die Fledermaus spielten Ball. Der eine warf den Ball, fing ihn mit dem Kopf auf und stieß ihn dem anderen zu, der ihn wieder mit dem Kopfe auffing und zurückstieß. Als der Ball durch die Luft flog, fing der weiße Kondor ihn auf und verschwand. Aguaratunpa schickte nun einen Vogel, um den schwarzen Gummiball zu holen, und das ganze Dorf spielte. Mit dem Strauß spielte Aguaratunpa.[290] Mitten im Spiel tauschte er den Ball gegen einen Stein aus und warf ihn. Der Strauß fing ihn mit dem Kopf und fiel tot nieder. Als er wieder lebendig wurde, hatte er einen plattgedrückten Kopf, wie jetzt alle Strauße. Mit dem schwarzen Gummiball verschwand die Fledermaus.

Nun ist die Geschichte aus.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 286-291.
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