[69] 22. Das verliebte Faultier

Eine Frau hatte ein Faultier zum Liebsten. Jedesmal, wenn sie aufs Feld oder in den Wald ging, nahm sie Essen und Trinken mit. Dann rief sie: »Hau! Hau!« Das Faultier kam vom Baum heruntergeklettert, und sie liebkosten einander wie zwei Liebende.

Die Leute fingen an darüber zu reden, warum die Frau wohl immer Essen und Trinken mitnähme, wenn sie aus dem Hause ging. Es war ein junger Mann da, der folgte ihr am nächsten Tag, und er sah und hörte, wie sie ihr Faultier »Liebster« nannte und es streichelte. Aber anstatt ihre Zärtlichkeiten zu erwidern, kratzte das Faultier sie und riß sie am Haar. Darauf sagte sie: »Bist du eifersüchtig oder böse?« In der Tat war das Faultier sehr böse und eifersüchtig, denn es konnte sehen, daß der junge Mann, hinter einem Baum versteckt, sie beobachtete. Die Frau wußte das nicht und ging heimwärts. Sobald sie gegangen war, kam der Mann aus seinem Versteck hervor und tötete das Faultier.

Als die Frau am andern Tag wiederkam und das Tier tot liegen sah, wurde sie sehr betrübt. Sie weinte bittere Tränen und sagte: »Wer hat dich getötet, mein Liebster?« Aber der junge Mann, der ihr gefolgt war, kam herbei und tröstete sie. »Sei nicht töricht,« sagte er. »Ein flinker Bursche ist doch einem trägen Faultier vorzuziehen. Nimm mich zum Liebsten!« Und das tat sie.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 69.
Lizenz:
Kategorien: