[85] 33. Serikoai

[85] Im Anfang unserer Tage sah eine jungverheiratete Frau, Wawaiya, einen jungen Tapir ruhig an ihrer Seite dahingehen.

»Wer bist du,« sagte die Frau, »daß du so neben mir gehst?«

»Sie nennen mich Wailya,« antwortete er. »In verwandelter Gestalt suche ich deine Nähe; denn du bist lieblich anzusehen.«

Wenn ihr Mann zum Jagen ging, begab sie sich zu ihrem Feld, und täglich, wenn sie den Waldpfad dahinschritt, traf sie dort den Tapir. Angenehme Worte sprach das Tier zu ihr, und sie hörte ihm gern zu, bis durch seine geschickten Schmeicheleien ihr einst geliebter Gatte Serikoai ihr weniger lieb wurde.

Dann sagte der Verführer keck: »Komm! Laufe mit mir davon! Weit, weit wollen wir beide fliehen. Wo diese weite Erde sich mit dem Himmel trifft, dort sollst du mein Land sehen! Dort ist es, wo ich als Mensch herrsche. Dort sollst du meine Frau sein!«

»Ach,« rief sie, »wenn wir fliehen, wird Serikoai, mein tapferer Gatte, uns beide erschlagen!«

»Ich werde deine Axt bezaubern,« sagte der Zauberer, »und sie wird zu dir sprechen. Beachte wohl, was diese gute Axt dir sagen wird, und sieh, daß du es tust. An demselben Tag werden wir beide in Sicherheit sein!«

»Wawaiya,« sagte eines Tages Serikoai, »komm mit zu unseren Abakate-Bäumen! In jener alten Pflanzung sah ich im letzten Monat junge Früchte im Überfluß. Sie werden jetzt wohl reif sein.«

»Ich gehe mit dir,« antwortete die Frau, »aber ich muß meine Axt mitnehmen. Während du auf den Baum kletterst, will ich trockenes Holz sammeln, um ein Feuer für die Nacht zu machen.«[86]

Dann ging sie zu dem Schärfstein, um ihre Axt zu schleifen. Jedesmal, wenn sie den Stein berührte, schien das Wort »sahtai!« in drohendem Ton vom Winde herbeigetragen zu werden.

»Hörst du nicht, Serikoai, daß die Axt hier zu mir spricht? Jedesmal, wenn ich wetze, ertönen die Worte, ich muß schneiden' oder ›ich muß verwunden‹. Was kann das bedeuten?«

»Immer, wenn dort eine Axt geschärft wird,« sagte er, »höre ich dasselbe. Aber jetzt laß uns eilen, um nicht den Tag zu verlieren, indem wir müßigen Träumereien nachhängen! Frauen sind oft zu tadeln!«

Da entbrannte in ihr der Zorn, als sie mit ihrem Gatten weiterging. Jener schreckliche Zauberer zog sie an, und mit seinem Zauber war ihr Herz gegangen, bis sie nicht mehr zurück konnte.

Sie sahen viele reifende Früchte. Süße Bananen waren da. Aber der Mann wollte noch auf jenen Baum klettern, der seine Lieblingsfrucht, die Abakate, trug.

Da gewann der Zauber Macht über sie. Sie erhob ihre Hände und führte den Schlag. Die Tat war geschehen. Der Mann lag am Boden. Sein Bein war glatt durchgeschnitten. Verwundert und voll tiefsten Schmerzes blickte er seine Frau an. Sie aber eilte weg von dem blutigen Schauplatz, um mit Wailya durch die Wälder und über die Hügel zu gehen.

Der Mann lag da und glaubte zu sterben. Sein Lebensblut floß dahin. Da kam ein freundlicher Geist vorbei und belebte ihn, als er dort lag. Er hauchte ihn an. Da zuckte der Mann mit dem Augenlid, auf dem eine Träne lag. Er blies sie in die Luft. Da flog sie als kleiner Vogel von wunderschöner Farbe in die Höhe und schwebte wartend in der Nähe.

»Vöglein,« sagte der blutende Mann, »fliege eilends zu meiner Mutter und rufe meinen Namen!«

Das Vöglein verstand ihn. Es flog geradewegs zur Mutter und rief: »Serikoai!«

»Warum rufst du meinen Sohn Serikoai? Vöglein, sage[87] mir die Wahrheit! Warum flatterst du hin und her? Ich weiß nicht, was du willst, Vöglein.«

Da flog das Vöglein weg, aber eilig kam es wieder, belehrt durch den leidenden Mann.

»Mutter, dein Serikoai ist schwer verletzt und liegt dort verlassen, um zu sterben!«

Sogleich machte sich die Mutter auf. Sie lief und stolperte, denn sie war schon alt. Dennoch eilte sie vorwärts durch dichtes Gebüsch, um ihrem ruchlos erschlagenen Sohne zu helfen.

Da sah jener gute Geist ihre Liebe und zu heilendem Balsam fügte er den Zauber, bis er Serikoai gerettet in den Armen seiner Mutter ließ.

Eines Tages wanderte ein Mann dahin, indem er den Boden absuchte. Er schien von großer Kraft zu sein, aber er sah bleich und ermüdet aus. Nur seine funkelnden Augen ließ er überall umherschweifen. Er hatte ein hölzernes Stelzbein. Dennoch bewegte er sich weiter vom Morgen bis zum Abend, wie ein Krieger zum Kampfe bewaffnet mit Bogen und Keule. Jeden Waldpfad suchte er ab, aber sein Auge traf auf keine Spur; denn mancher Abend, manche Morgendämmerung waren dahingegangen, seit das falsche Weib geflohen war, das Serikoai verstümmelt hatte. Die Regen hatten ihren Pfad verwaschen. Keine Spuren waren geblieben, kein Zeichen, daß hier Menschen gegangen waren. Endlich fand er einen Abakateschößling. Er suchte weiter im Wald herum und folgte dem Weg, bis er noch einen Abakateschößling am Boden sah. Da leuchtete sein Auge heller.

Seine Hoffnung, sie wiederzufinden, lebte auf und erwärmte sein Herz; denn die, die sein Leben rettete, hatte ihm gesagt: »Ein Zauberer hat deine Frau behext, ein Mann in Tiergestalt!«

Er dachte an sie, die diese Früchte gepflückt und unterwegs gegessen hatte. Die Regen, die ihre Fußtapfen vertilgen konnten, hatten diese Samen ans Licht sprossen und wachsen lassen, dort wo sie lagen.[88]

Traurig und müde ging der Mann weiter der aufgehenden Sonne entgegen, und er sagte: »Die Grenze der Erde muß nahe sein. Näher und näher kommt der Himmel. Meine Aufgabe wird bald getan sein.«

Er fand die kleinen Fußspuren seiner Frau. Auch die des Tapirs waren deutlich. Dann sah er sie beide zusammengehen, zu vertieft in ihr fröhliches Gespräch, um an die nahe Vergeltung zu denken.

Er schoß Wailya durch das Herz, bevor er seine Gestalt verwandeln konnte. Dann schnitt er ihm das häßliche Haupt ab, und der Boden, auf dem er lag, wurde warm von seinem Herzblut.

Dann schrie der Mann: »Er ist tot, er, dessen Zauber dich verhext hat! Kehre zurück, mein Weib, kehre zu mir zurück, oder ich werde dir immerdar folgen durch Erde, Himmel und Meer!«

Er zerschnitt und räucherte des Tapirs Fleisch. Dann folgte er seinem Weibe. Er sah sie von einem benachbarten Hügel. Als schattenhafte Gestalt folgte ihr noch immer – Wailya – wie im Leben.

Sie flohen und kamen näher und näher an den steilen Rand der Erde. Eine weite Kluft sahen sie da. Gerade über den Abgrund flog die Frau in den tiefen blauen Himmel. Ihr Liebhaber folgte, und voll Wut folgte auch der Gatte. Und so folgt sich die Jagd unaufhörlich durch die Luft, wie wir es allnächtlich sehen können.

Wawaiya erscheint als wolkenartiger Sternenhaufe, wenn die Nacht klar ist. Hinter ihr kommt Wailya und wendet sein grimmiges, blutunterlaufenes Auge nach dem nahen Gatten, dessen mächtige Gestalt, strahlend von Sternen, sich in den Himmel zu erheben scheint. Seine Schultern und das gesunde Bein glitzern dort, ebenso der breite Gürtel, den er zu tragen pflegte. Schwächer sieht man das Stelzbein, das den verstümmelten Serikoai stützte.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 85-89.
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