[145] 48. Der Schlangenpfeil

Ein Jäger verirrte sich im Wald und blieb dort. Als er unter einen großen Baum kam, legte er sich schlafen.

Da hörte er schreien. Der Kurupira schlug wider die hohen Baumwurzeln, dann schrie er. Wiederum schrie er und schlug wider eine Baumwurzel. So kam er immer näher. Dann hörte er ihn ganz nahe. Da kam der Kurupira, setzte sich neben ihn, und sie begannen sich zu unterhalten:[145]

»Ach, mein Enkel, wie geht es dir?«

»Ach, Großvater, mir geht es so so, aber wie geht es dir?«

»Mir geht es auch so so.«

»Ach, Großvater, ich habe mich verirrt!«

»Ist es möglich, mein Enkel? Deine Hütte ist doch nicht weit. Wann bist du von Hause weggegangen?«

»Gestern, Großvater.«

Sie fuhren fort sich zu unterhalten:

»Ach, mein Enkel, ich habe Hunger.«

»Ich habe auch Hunger. Ich habe heute noch nichts gegessen.«

»Mein Enkel, ich möchte essen!«

»Ich auch.«

»Mein Enkel, gib mir deine Hand zu essen!«

»Hier ist sie, Großvater.«

Er schnitt die Hand eines Affen ab, den er am Abend erlegt hatte, und gab sie ihm. Der Kurupira nahm sie und aß.

»Mein Enkel, deine Hand schmeckt gut. Ich möchte auch die andere essen!«

»Hier ist sie, Großvater.«

Er nahm sie und aß.

»Ach, mein Enkel, ausgezeichnet schmeckt deine Hand! Gib mir nun auch deinen Fuß zu essen!«

»Hier ist er, Großvater.«

Er schnitt den Fuß des Affen ab und gab ihn ihm.

»Hier ist er, Großvater.«

Der Kurupira nahm ihn und aß.

»Ach, mein Enkel, schmackhaft ist dein Fuß!«

»Ist es möglich, Großvater?«

Dann bat er ihn um sein Herz.

»Ach, mein Enkel, ich möchte auch dein Herz haben.«

»In der Tat, Großvater? Hier ist es.«

Er zog sogleich das Herz des Affen hervor und gab es ihm.

Der Kurupira nahm das Herz des Affen und aß es. Darauf bat der Jäger um das Herz des Großvaters.

»Nun möchte ich auch dein Herz haben!«[146]

Bevor ihn der Kurupira um eine andere Sache bitten konnte, bat ihn jener um sein Herz.

»Ist es möglich, mein Enkel? Dann gib mir dein Messer!«

»Hier ist mein Messer.«

Der Kurupira nahm sofort das Messer, stieß es sich in die Brust, fiel um und starb. Der Jäger machte sich davon und ließ ihn liegen.

»Wohl getan, daß er gestorben ist!«

Damit ging er weg. Nach einem Jahr erinnerte er sich wieder der Sache.

»Jetzt will ich nach dem Kurupira sehen, der gestorben ist, um ihm die grünen Zähne auszuziehen als Zaubermittel. Er muß schon verwest sein. Ich will mir seine Knochen holen zu Pfeilspitzen.«

Er ging hin, fand die schon gebleichten Knochen und machte sich daran, sie mit der Axt, die er mitgenommen hatte, abzulösen.

»Jetzt ziehe ich mit der Axt die Zähne aus,« sagte er.

Er schlug sogleich mit der Axt auf die Zähne. Da wurde der Kurupira wieder lebendig und setzte sich auf. Der Mann erschrak heftig.

»Ach, mein Enkel, ich habe Durst; ich will Wasser!«

»In der Tat?«

Da schlug der Mann sogleich sein Wasser in seinen Hut ab.

»Hier ist Wasser für dich, Großvater!«

»Jetzt bin ich gut erwacht, aber ich weiß nicht, wo wir in der Unterhaltung stehengeblieben waren, als ich einschlief. Was war es doch, mein Enkel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Jetzt wollen wir gehen, mein Enkel. Was willst du nun haben, mein Enkel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich gebe dir einen Pfeil, damit du Beute machst.«

»Wohl gesprochen, Großvater!«

»Vorwärts also!«

»Vorwärts!«[147]

Sie gingen in den Wald, und dort gab ihm der Kurupira den Pfeil.

»Jetzt hast du einen Pfeil für die Jagd. Willst du nun gehen?«

»Ja, ich will gehen.«

»Weißt du vielleicht, wo deine Hütte ist?«

»Nein.«

»Dann will ich mit dir zu deiner Hütte gehen.«

»Gut, Großvater, laß uns also gehen!«

Sie kamen in die Nähe der Hütte.

»Jetzt, mein Enkel, gehe ich weg und lasse dich da. Wenn du mich haben willst, wirst du mich schon zu finden wissen. Wenn du es wünschest, komme ich zu dir. Verstanden? Nun lebe wohl! Du allein kennst die Kraft dieses Pfeils. Nimm ihn nicht mit in deine Hütte! Erzähle niemand etwas davon, nicht einmal deiner Frau! Du allein verstehst es, mit ihm zu jagen. Dieser Pfeil ist eine Surukuku-Schlange. Du brauchst keinen Bogen, um Beute zu machen. Es genügt, wenn du den Pfeil schleuderst. Ich erzähle dir dies alles, damit du es weißt und ihn nicht verlierst. Gut! Jetzt gehe ich weg!«

»Lebe wohl, Großvater! Ich werde dich bald besuchen.«

»Gut, mein Enkel! Ich bin immer zu deiner Verfügung.«

Von da an war der Jäger immer erfolgreich. Er erlegte viel mehr Wild als die anderen. Niemand wußte, wie er jagte. Da sagten sie: »Wie verhält sich das? Er schießt Vögel, er erlegt Vierfüßler. Warum können wir das nicht so?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir gehen in den Wald und erbeuten nichts. Er aber geht weg und kommt rasch wieder heim, wenn wir ihn noch gar nicht erwarten.«

Andere sagten: »Wie kann das nur sein? Wir wollen ihn belauern, wie er seine Beute erlegt!«

»Laßt uns zwei Knaben schicken, ihn auszuspähen!«

»Vorwärts!«[148]

Sie machten sich sogleich daran, ihn zu belauern. Als er in den Wald ging, schlichen sie hinter ihm her. Heimlich beobachteten sie ihn. Sie sahen, wie er seinen Pfeil von dem Ast eines Baumes schoß, und schlichen sich sogleich hin, um zu beobachten, wie er mit dem Pfeil tötete.

»Jetzt werden wir schon ausspähen, wo der Pfeil ist! Jetzt werden wir die Wahrheit schon erfahren!«

Sie belauerten ihn. Er sah einen Vogel dahinfliegen. Da beobachteten sie, wie er den Pfeil hinter ihm her schleuderte und darauf zu dem Vogel lief, der tot am Boden lag mit dem Pfeil daneben.

»Ist es denn möglich? Jetzt wissen wir, wie er seine Beute erlegt!«

Sie kehrten um und sprachen:

»Morgen wollen wir hingehen, um seinen Pfeil zu erproben, und sehen, wie er Beute macht!«

Am Morgen gingen sie hin. Sie fanden den Pfeil, zogen ihn aus seinem Versteck hervor und erprobten ihn sogleich an einem fliegenden Vogel. Sie schleuderten den Pfeil. Dieser flog dahin, kehrte um und traf einen von den Knaben, der sofort zu Boden stürzte und starb. Der andere lief heim und erzählte:

»Mein Gefährte ist tot!«

»Woran ist er denn gestorben?«

»Eine Schlange hat ihn gebissen!«

»Laßt uns sehen!«

Sie gingen hin und fanden den Leichnam.

Der Herr des Pfeils suchte nach diesem, um auf die Jagd zu gehen, aber er fand ihn nicht mehr.

»Wo ist mein Pfeil hingekommen? Vielleicht ist er zu seinem Herrn zurückgekehrt. Was mache ich nun? Jetzt habe ich keinen Pfeil mehr! Vielleicht haben sie ihn entdeckt, und deswegen ist er umgekehrt. Vielleicht ist der Pfeil zum Kurupira zurückgekehrt!«

Er ruhte nicht eher, als bis er wußte, daß sie seinen Pfeil gefunden und erprobt hatten, daß der Knabe von der[149] Schlange gebissen worden und gestorben war, und daß der Pfeil darauf zum Kurupira zurückgekehrt war.

»Das ist eine schöne Geschichte! Wer hat sie geheißen, den Pfeil anzurühren? Sie dachten wohl, es sei ein gewöhnlicher Pfeil, während es doch eine Schlange war. So haben sie mich um meinen Pfeil gebracht, so daß er nicht mehr zu mir zurückkehrt!«

Deswegen machte sich der Knabe davon in ein anderes Land und floh mit den übrigen Verwandten, die sich aus Furcht vor der Rache des Jägers einen anderen Wohnsitz suchten.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 145-150.
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