[227] 83. Die magische Flucht

Man erzählt, daß ein Alter, der drei Töchter hatte, mit ihrem Oheim verabredete, daß er sie mit sich nähme, um Miritifrüchte zu sammeln. Als sie übereingekommen waren, erschien frühmorgens der Yurupari in der Gestalt des Oheims, den er auf dem Weg getötet hatte. Die Mädchen gingen mit dem vermeintlichen Oheim weg. Nachdem sie weit gewandert waren, fragte eine von ihnen, ob es noch weit sei bis zum Miritihain. Der Yurupari verneinte es. Sie gingen eine Weile, und wieder fragte eine von ihnen, ob der Miritihain noch weit sei, worauf jener es abermals verneinte. Als sie bei Tagesanbruch schon nahe der Höhle waren, in der der Yurupari hauste, schaute eine von ihnen auf seine Füße und rief: »Das ist der Yurupari!«

Sie kamen in seine Wohnung, und der Yurupari sagte, das[227] wäre der Miritihain. Dann ging er weg und ließ einen Papagei als Wache zurück, daß die Mädchen nicht entflohen. Als die Nacht kam, forderte er die Älteste auf, ihm Feuer bei die Hängematte zu bringen. Dann machte er sich wie eine Fledermaus über sie her und saugte sie aus. Frühmorgens ging er wieder in den Wald.

Sobald er weggegangen war, gingen die beiden Schwestern hin, um nach der anderen zu sehen, die mit dem Yurupari geschlafen hatte. Da fanden sie nur noch ihre Gebeine. In der Nacht kam der Yurupari und befahl der Zweiten, Feuer bei seine Hängematte zu bringen. Aber als sie sich näherte, packte er sie und saugte sie aus wie die erste. Vor Tagesanbruch ging er wieder in den Wald. Als er weg war, ging die Jüngste hin zur Hängematte und sah, daß auch von der anderen nur noch die Gebeine übriggeblieben waren. Da weinte sie und legte sich in die Hängematte zu den Knochen ihrer Schwestern. Bald darauf sah sie den Karang über die Höhle fliegen, und sie rief:

»Ach, Karang, Karang! Wenn du ein Mann wärest, würdest du mich zu meiner Mutter bringen!« Kurz danach erschien der Karang in der Gestalt eines jungen Mannes und sagte zu ihr, sie solle die Knochen, ein wenig Salz und Asche nehmen und den Talisman des Yurupari stehlen.

Sobald sie alles besorgt hatte, machten sie sich davon. Kaum waren sie weggegangen, da begann der Papagei zu schreien:

»Herr, dort geht der Karang und nimmt deine Schnecke mit!« Dies hörte der Yurupari. Er lief hinter ihnen her und schrie:

»Karang, gib mir meinen Talisman her!«

Als sich der Yurupari näherte, sagte der Karang zu dem Mädchen, sie solle einen von den Knochen ihrer Schwestern ergreifen. Sofort erhob sich eine große Rauchwolke und hinderte den Yurupari sich zu nähern. Die beiden benutzten dies und eilten weiter. Schon hatten sie eine große Strecke zurückgelegt, als sie von neuem den Schrei hörten:

»Karang, gib mir meinen Talisman her!«[228]

Der Karang befahl nun, Salz und Asche zu verbrennen. Kaum hatte sie es getan, als sich ein großes Dornengestrüpp erhob.

Während der Yurupari sich von den Dornen befreite, eilten sie vorwärts. Als sie schon nahe der Hütte ihrer Mutter waren, hörten sie abermals:

»Karang, gib mir meinen Talisman her!«

Da befahl der Karang, die Knochen, das Salz und die Asche zusammen zu verbrennen, und es erschien ein breiter Fluß, den der Yurupari nicht überschreiten konnte. So konnten sie zur Hütte der Mutter kommen. Diese freute sich, die Töchter wiederzusehen, die sie schon verloren geglaubt hatte.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 227-229.
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