[268] 98. Die große Schlange

[268] Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wollten ein Tier haben, das sie aufziehen könnten. Sie gingen in den Wald, aber sie fanden keins. Zuletzt kamen sie auf eine Grasebene, und dort fanden sie auf einem Grashalm einen Wurm, Nyoko.

»Den wollen wir mit nach Hause nehmen und aufziehen,« sagte sie.

Sie nahmen den Wurm mit nach Hause, machten einen ganz kleinen Teller aus Lehm und legten den Wurm darauf.

Nun wollten sie dem Wurm zu fressen geben. Sie versuchten es mit Bananen, aber die wollte er nicht fressen. Der Wurm war so gewachsen, daß sie einen etwas größeren irdenen Teller machen mußten, auf dem er liegen konnte. Sie versuchten es mit allem möglichen, aber nichts wollte der Wurm fressen.

Da tötete der Mann eines Tages einen Vogel. Nichts von dem Vogel wollte Nyoko fressen. Da gab der Mann dem Wurm das Herz des Vogels, und das fraß er.

Nun wußten sie, was der Wurm fraß. Der Mann tötete jeden Tag Vögel und gab dem Wurm ihre Herzen. Er wuchs so, daß sie noch einen größeren Teller machen mußten, auf dem er liegen konnte. Der Mann tötete alle möglichen Tiere: Vögel, Wildschweine, Tapire. Der Wurm fraß nur ihre Herzen. Er wuchs so, daß sie ein ganz großes Gefäß machen mußten, auf dem er liegen konnte. Der Mann tötete täglich alle möglichen Tiere, und der Wurm, der so groß wie eine Schlange war, fraß nur die Herzen. Er war weiter gewachsen und so groß geworden, daß er nicht mehr auf dem Gefäß liegen konnte. Sie legte ihn auf den Boden vor der Hütte.

Nyoko fraß und wuchs und wuchs. Der Mann jagte, aber zum Schluß gab es keine Tiere mehr. Der Mann begann[269] Menschen zu töten und gab dem Wurm ihre Herzen. Er tötete sie mit einem Pfeil, so dick wie die Hand. Zuletzt hatte er alle Menschen getötet, die in der Gegend wohnten. Er mußte weiter fortgehen zu einem großen Dorf, und dort tötete er viele Menschen und gab Nyoko ihre Herzen. Die Menschen wunderten sich, wer alle diese tötete. Ein Jaguar konnte es nicht sein.

Eines Tages kam der Mann wie gewöhnlich in das Dorf, um Menschen zu töten. Vor einer Hütte saß ein Mädchen. Er tötete es mit einem Pfeil und nahm das Herz heraus. Das sah der Bruder, der drinnen im Hause war und Pfeile machte. Er sprang aus dem Hause heraus, entriß dem Mörder den Pfeil und tötete ihn. Die anderen Menschen kamen alle und brachten ihn mitten auf den offenen Platz im Dorfe und schossen ihn voll von Pfeilen.


98. Die große Schlange

Als nach einigen Tagen der Mann nicht nach Hause kam, wurde seine Frau unruhig. Nyoko war hungrig. Sie fragte sich, was ihrem Manne geschehen sein könne, und sagte dann dem Wurm, er solle seinen Vater suchen.

Zuerst bewegte sich Nyoko nicht. Endlich stand er auf. Er erhob den Kopf hoch und richtete sich auf gen Himmel. Als der Kopf den Himmel erreichte, da war der Schwanz noch auf der Erde. Als die Sonne aufging, begann er sich zu erheben, und genau mitten am Tage kam er wieder herunter. Nyoko schaute umher, und da sah er den Mann mitten auf dem offenen Platz im Dorfe, voll von Pfeilen.

Nyoko machte sich nun auf den Weg zum Dorfe. Er verwandelte sich zuerst in viele verschiedenfarbige Schlangen. Sobald eine Schlange in die Häuser kam, wurde sie von den Menschen getötet. Sogleich kam eine andere von anderer[270] Farbe. Zuletzt legte sich Nyoko um das Dorf, so daß keiner herauskonnte. Die Menschen beschossen die Schlange mit Pfeilen, so daß sie ganz voll von Pfeilen war.

Nyoko wuchs und wuchs so, daß sie zuletzt über das ganze Dorf wuchs und tötete alle Menschen. Dann verwandelte sie sich in einen Mann und weckte den anderen Mann, der sie aufgezogen hatte. Sie aßen alle Herzen der Menschen auf.

Nyoko ist jetzt die Milchstraße.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 268-271.
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