7. Die Paradiesrose

[27] Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Töchter. Als er nun einmal Heu in die Stadt fahren wollte, frug er sie, was er ihnen mitbringen solle. Die älteste bat um ein Kleid, wie niemand eines habe, die mittlere um einen Spiegel, in dem man die ganze Welt sehen könne, und die jüngste um eine Paradiesrose.

Der Bauer fuhr in die Stadt, verkaufte sein Heu vorteilhaft, erwarb das Kleid für die älteste und den Spiegel für die mittlere Tochter, konnte aber in der ganzen Stadt keine Paradiesrose finden. Da ward die Jüngste zornig und bat ihren Vater um so dringlicher ihren Wunsch zu erfüllen. Was war da zu machen? Der Bauer mußte wieder[27] in die Stadt, frug alle, die ihm begegneten, nach der Rose und erfuhr endlich, daß diese im Garten eines Divs wachse, daß es aber sehr schwer sei in diesen Garten zu kommen; wer einmal drinnen sei, könne nicht mehr heraus und werde ein Opfer des Divs.

War sein Weg lange, war er kurz? ... Er kam endlich doch in den Garten und sah den Div dort unter dem Strauche schlafen, auf dem die Paradiesrose wuchs. Er stahl sich vorsichtig an den Strauch heran, riß die Rose ab und lief zurück, so schnell ihn seine Beine tragen wollten. Inzwischen war der Div aber aufgewacht, hatte das Verschwinden der Rose bemerkt und lief dem Bauern nach. Lange verfolgte er ihn und hätte ihn beinahe erwischt, aber der Bauer hatte doch sein Haus erreicht und schloß sich darin ein. Der Div blieb vor der Türe stehen und rief mit so schrecklicher Stimme, daß sogar die Blätter auf den Bäumen erzitterten: »Gib mir meine Paradiesrose oder deine jüngste Tochter, sonst zerstöre ich dein Haus und bringe dich und die Deinen um!« Schrecklich angst ward dem Bauer ob dieser Drohung, und er wußte gar nicht, was er tun sollte. Seine Jüngste aber wußte Rat: »Es hilft nichts, ich gehe zum Div, aber die Rose behältst du.« Gesagt, getan. Der Div führte sie in sein Schloß.

Dort lebte auch die Schwester des Div, die Dsudsu-kokoba (die Kleinbrüstige) hieß. Eines Tages sagte der Div zu ihr: »Schwesterchen, es kommen heute Gäste, schlachte die Paradiesrose (so nannte er nämlich die jüngste Tochter des Bauern) und mach sie zu Mittag fertig.« Die Schwester versprach, alles ordentlich zu machen und der Div ging seiner Arbeit nach. Ab er Paradiesrose hatte alles gehört und beschloß sich grausam zu rächen. Sie holte sich ein Rasiermesser, und als die nichts ahnende Dsudsu-kokoba sich ihr näherte, warf sie sich auf sie und schnitt ihr den Hals durch; dann schnitt sie sie in Stücke, kochte sie im Kessel und legte ihre Brüste obenauf. Dann nahm sie einen Zauberspiegel mit, einen Kamm und eine Schere und entfloh.[28]

Als der Div mit einer ganzen Schar Gäste nach Haus kam und seine Schwester sie nicht empfing, dachte er, sie wäre mit den Vorbereitungen zum Mittagessen beschäftigt und begab sich in die Küche. Kaum aber hatte er einen Blick in den Kessel geworfen, als er mit Entsetzen sah, daß seine Schwester darin war. Er erriet sofort, was vorgefallen war, ließ seine Gäste im Stich und jagte in furchtbarer Wut hinter Paradiesrose drein. Schon hatte er sie fast eingeholt, als diese den Zauberspiegel hinter sich warf und daraus wuchs ein ungeheurer gläserner Wald hervor. Der konnte aber den Div nicht hindern; er zerschnitt sich zwar böse, aber er kam doch durch den Wald und setzte die Verfolgung fort. Als Paradiesrose ihn wieder hinter sich sah, warf sie den Kamm weg und es wuchs ein Kammwald aus dem Boden. Der Div aber überwand auch dieses Hindernis, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Dann warf Paradiesrose die Schere hinter sich und es wuchs ein Scherenwald hervor. Auch in diesen warf sich der Div kopfüber. Ganz mit Wunden bedeckt, kam er an das andere Ende des Scherenwaldes und, obwohl er vom Blutverluste ganz schwach geworden war, gab er doch die Verfolgung nicht auf. Paradiesrose glaubte ihr Ende sei gekommen und sah sich nach einem Versteck um. Da traf ihr Blick auf ein verschlossenes Häuschen; sie warf sich auf die Knie und flehte zu Gott in heißem Gebet, er möge die Türe öffnen. Wirklich öffnete sich diese sogleich und kaum war Paradiesrose drinnen, als sie sich von selbst wieder schloß. Auch der Div kam zu dem Häuschen; so sehr er sich aber bemühte hineinzukommen, so nutzlos waren seine Bemühungen. Schließlich gab er es auf und kehrte in sein Schloß zurück.

Paradiesrose aber untersuchte ihren Zufluchtsort und fand in einem Winkel einen Sarg, in dem ein schöner Jüngling, der Sohn des dortigen Königs, lag. Der hatte eines Tages auf die Sonne geschossen und seit der Zeit war er tagsüber tot. Nachts aber lebte er wieder auf. Sein Vater[29] hatte das Häuschen für ihn erbaut und den Sarg mit seinem lebendig-toten Sohn hineingestellt. Jeden Abend verließ der wieder auflebende Prinz seinen Sarg, aß, was man ihm gebracht hatte und legte sich am Morgen wieder hinein. Paradiesrose nährte sich jeden Morgen von dem, was er am Abend übriggelassen hatte, zeigte sich aber dem Prinzen nicht. Der wunderte sich freilich darüber, daß das Häuschen so sauber gehalten wurde. Da nahm er nun einmal in der Nacht eine Kerze, durchsuchte das ganze Haus und entdeckte endlich ein Weib. Er frug sie, wer sie sei und wie sie hierher gekommen sei und sie erzählte ihm alles, was ihr passiert war. Der Prinz verliebte sich in sie und sie lebten zusammen wie Mann und Frau. Tage vergingen, Wochen, Monate; endlich kam die Zeit, wo sie entbinden sollte. Da gab ihr der Prinz einen Ring und sagte: »Geh mit diesem Ring zum Hofe meines Vaters; du wirst zuerst auf böse Hunde stoßen, die sich mit Gebell auf dich werfen werden, zeige ihnen aber meinen Ring und sie werden dich in Ruhe lassen. Bitte dann um Nachtlager; du wirst entbinden und dann komme ich und besuche dich.«

Paradiesrose nahm Abschied vom Prinzen und machte sich auf den Weg. Lange ging sie, wenig ging sie; schließlich kam sie zum Hofe des Königs, wo die Hunde mit Gebell se anfielen, sich aber gleich beruhigten, als sie ihnen den Riing zeigte. Der König, der dies alles gesehen hatte, wunderte sich und frug seine Leute, wer dies Weib sei. Niemand aber kannte sie; man wußte von ihr bloß, daß sie um ein Nachtlager gebeten hatte. Der König befahl, ihr ein Zimmer zu geben. In der Nacht gebar sie einen Sohn. Als man am Morgen dem König dies meldete, ging er mit der Königin zu der Wöchnerin und besah sich den Neugeborenen. Der gefiel ihm sehr, denn das Knäbchen war sehr schön – was den König und die Königin aber am meisten wunderte, war, daß der Neugeborene so sehr ihrem Sohne glich; die Königin war so gerührt, daß sie zu[30] weinen anfing. Der König schickte der Wöchnerin eine Wärterin und kehrte dann mit der Königin in seine Gemächer zurück.

Inzwischen war auch der Prinz wieder aufgewacht. Sofort begab er sich zu dem Hause, in dem Paradiesrose untergebracht war.

»Paradiesrose«, rief er zum Fenster hinein.

»Was, Teurer?« antwortete sie, denn sie hatte seine Stimme sogleich erkannt.

»Was hat uns Gott geschenkt, einen Sohn oder eine Tochter?«

»Einen Sohn!«

»Worauf liegst du?«

»Auf einer alten verfaulten Matratze.«

»Womit bist du zugedeckt?«

»Mit einer alten Decke.«

»Was hast du unter dem Kopf?«

»Einen kalten Stein.«

»Wo liegt unser Söhnchen?«

»In einer alten Wiege.«

»Wehe meiner Mutter, wehe meinem Vater, das größte Wehe aber meiner alten Amme!« sagte der Prinz und ging wieder in sein Häuschen zurück.

Am nächsten Morgen erzählte die Wärterin, die alles gehört hatte, das ganze Gespräch dem König. Der glaubte aber, sie wolle ihn betrügen und verjagte sie. Dann rief er seinen Vezier zu sich und befahl ihm, in der folgenden Nacht das Haus, in dem die Wöchnerin lag, zu bewachen und ihm das Vorgefallene zu melden. In dieser Nacht aber wiederholte sich alles, was in der vergangenen vorgefallen war. Der Vezier erstattete dem König Bericht und überzeugte ihn davon, daß die Wärterin die Wahrheit gesprochen hatte. Der König befahl nun, die Wöchnerin für die dritte Nacht in ein neues Seidenbett, das Kind aber in eine goldene Wiege zu legen, zu ersterer aber sagte er: »Ich werde mich mit einigen Leuten aus meinem[31] Gefolge im Nebenzimmer verstecken; wenn der Prinz kommt, sage ihm, sein Sohn sei erkrankt und bitte ihn hereinzukommen; wir werden uns dann seiner bemächtigen und ihn heilen.«

Als es Nacht wurde, kam der Prinz.

»Paradiesrose!« rief er.

»Was willst du, Liebster?« antwortete sie.

»Worauf liegst du?«

»Auf einer neuen seidenen Matratze.«

»Womit bist du zugedeckt?«

»Mit einer neuen seidenen Decke.«

»Was hast du unter dem Kopf?«

»Ein neues seidenes Kissen und eine seidene Rolle.«

»Wo liegt unser Söhnchen?«

»In einer goldenen Wiege.«

»Segen meiner Mutter, Segen meinem Vater, und am meisten meiner alten Amme!«

»Ja, das wäre alles sehr schön, aber der Kleine ist krank, willst du nicht hereinkommen und ihn ansehen?«

»Wacht niemand im Hause? Schlafen alle?«

»Sei unbesorgt! Komm herein! Alle schlafen.«

Der Prinz trat ein und kaum war er in dem Zimmer, als sie ihn auch schon gefaßt hatten. Der König und die Königin freuten sich unbändig, als sie ihren Sohn lebendig vor sich hatten. Als es aber Morgen wurde, starb er. Und mit ihm starb auch die Freude im Hause des Königs; Kummer und Sorge nisteten sich wieder ein. Kein Arzt, kein Heilkundiger, kein Weiser konnte helfen; niemand war imstande, den Toten aufzuerwecken.

Da erinnerte sich die Königin ihrer Schwester, die mit der Sonne verheiratet war und beschloß, sie sofort aufzusuchen und um Rat zu fragen. Ob sie lange ging, ob sie wenig ging, wer weiß? Aber sie kam schließlich in ein Reich. Dort wurde sie von dem König empfangen, wie es ihrer hohen Würde gemäß war, und dort erfuhr sie auch, daß die Königin in schweren Geburtswehen liege. Als nun[32] der König erfuhr, daß ihr Weg ins Reich der Sonne gehe, bat er sie, möge der Sonne die großen Schmerzen mitteilen, die seine Gemahlin erleide und ihm auf dem Rückweg die Antwort der Sonne bringen.

Auf ihrem weiteren Weg sah die Königin einen Mann in einem glühenden Backofen stehen. Auch dieser Unglückliche bat sie, der Sonne von seinem Leiden Mitteilung zu machen und ihm auf dem Rückweg den Bescheid der Sonne wissen zu lassen. Wieder ging die Königin weiter und sah einen Hirsch, der mit den Hörnern sich im Himmel verfangen hatte und nicht loskommen konnte. Als der Hirsch von dem Reiseziel der Königin erfuhr, sagte er: »O, mächtige Königin! Seit anderthalb Jahren leide ich jetzt so; die ganze Zeit stampfe ich auf einem Fleck umher und kann nicht loskommen. Habe Mitleid mit mir. Erzähle der Sonne von meinem Unglück und frag' sie, wie dem abzuhelfen wäre. Wenn du zurückkommst, bring mir ihre Antwort. Dafür werde ich dir einen Dienst erweisen: wenn du eine Leiter brauchst in den Himmel, mein Geweih kann dir dazu helfen.«

Erfreut benützte die Königin die Gelegenheit; sie kletterte an den Stangen des Hirsches empor und kam bald in's Schloß zu Herrn Sonne. Der war aber gerade nicht zu Hause; er war nämlich auf der Jagd. Doch wurde die Königin von ihrer Schwester empfangen. Die Freude der beiden Frauen war grenzenlos. Schließlich sagte Frau Sonne: »Es ist gut, daß du gekommen bist, während mein Mann abwesend ist; er hätte dich gleich gefressen. Aber du bist noch nicht außer Gefahr: wenn er dich beim Nachhausekommen sieht, frißt er dich doch. Ich muß dich also verstecken.« Und sie schloß ihre Schwester in ein Zimmer mit neun Schlössern ein.

Bald darauf kam auch Herr Sonne von der Jagd nach Hause. Kaum war er eingetreten, als er auch schon ausrief:

»Ich rieche Christenfleisch im Hause. Wo ist es?«[33]

»Wie soll hier Christenfleisch sein?« entgegnete Frau Sonne, »Du hast wahrscheinlich in Christenlanden gejagt!«

»Nein, nein! Ich rieche und fühle, daß sich hier in meinem Hause ein christliches Wesen befindet. Lüge nicht, sag' die Wahrheit!«

Da gestand Frau Sonne alles ein und fügte hinzu: »Ja, im Schloß ist ein christliches Wesen, aber es ist meine Schwester. Wenn du mir versprichst, ihr nichts zu tun, zeige ich sie dir.«

Herr Sonne versprach das, und Frau Sonne holte ihre Schwester herbei. Die erzählte nun von ihrem Kummer und bat um Hilfe. Dabei vergaß sie auch nicht der in Wehen liegenden Königin, des Mannes im Backofen und des Hirsches.

»Sei unbesorgt, teure Schwägerin! Ich helfe dir und denen, für die du mich bittest. Inzwischen aber sei unser Gast!«

Am andern Morgen wusch sich Herr Sonne mit Wasser, gab davon seiner Schwägerin und sagte: »In diesem Wasser bade deinen Sohn, dann wird er sofort gesund. Der Kreißenden sage, sie solle sich auf gewöhnliches Stroh legen und sie wird sofort entbinden; dem Mann im Backofen sage, er solle aus dem Ofen hinausgehen und er wird seine Qual loswerden; der Hirsch aber soll seinen Kopf ein wenig zur Erde beugen und er wird sein Geweih freibekommen.«

Dann eilte die Königin nach Hause, um ihren Sohn zu heilen. Auf dem Rückweg teilte sie dem Hirsch, dem Mann im Backofen und der kreißenden Königin die Ratschläge der Sonne mit und alle drei wurden ihrer Qualen ledig. Auch ihr Sohn fand Heilung; nachdem er sich in dem Waschwasser der Sonne gebadet hatte, starb er nicht mehr.

Bald darauf heiratete er Paradiesrose und bestieg den Thron seines Vaters. Und es lebte sich in der königlichen Familie glücklich und freudenvoll.[34]

Solange ich nicht in einem Fingerhut Hirse koche, sie mit einer Nadel umrühre und mit dem Fingernagel auslöffle, solange mögen auch die, welche diesem Märchen zugehört haben, kein Kopfweh bekommen!

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 27-35.
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