60. Georgisch

[236] Es waren einmal drei Brüder: Rostom, Badri und Ußup. Rostom war ein leidenschaftlicher Jäger und so stark, daß, wenn er sich mit einem eisernen Klotz an den Kopf schlug und dazu schrie, alle die Recken jenes Landes zusammenliefen und ihm Geschenke an Gold und Silber brachten. Eines Tages sah er auf der Jagd einen Hirsch, auf den er anlegte. Nicht weit davon stand ein Haus, das war innen vergoldet und außen mit Erde überschüttet. In dem Augenblicke, als Rostom abdrücken wollte, erschien ein Mädchen, wie nie eines schöner war und rief ihm zu: »Töte meinen Hirsch nicht – er ist meine Kuh.« Rostom ließ das Tier fahren und näherte sich der Schönen, die er alsbald heiratete. Einige Zeit danach machte er sich auf den Weg und sagte beim Abschiednehmen zu seiner Frau: »Du wirst einen Sohn gebären, nenne ihn Amiran.«

Wirklich gebar sie einen Sohn. Lange blieb er ungetauft, aber schließlich bat er seine Mutter selbst, sie möge ihn taufen lassen. Dann erschien Jesus, taufte ihn und gab ihm den Namen Amiran. Als er zwölf Jahre alt war, ging er schon auf die Jagd. Aber auch seinen Vater wollte er gerne sehen und darum bat er seine Mutter, sie möchte ihn ziehen lassen. Sie segnete ihn und entließ ihn. Lange wanderte er umher auf der Suche nach seinem Vater, überall frug er nach ihm. Schließlich kam er zu dem Hause, in dem Rostom mit seinen Brüdern gelebt hatte. Von seinen Oheimen erfuhr er nun, daß sein Vater[236] im Kampfe mit Recken gefallen sei und daß diese sogar jetzt in seinem Hause wohnten und die Asche des Toten beschimpften. Amiran stürzte in das Haus und tötete alle die Recken, dann begrub er die Reste seines Vaters mit allen Ehren. Als er dies vollendet hatte, überredete er seine Oheime, mit ihm ins Land Filich zum Kampfe mit den dortigen Recken zu ziehen. Zuerst wollten Badri und Ußup nichts davon wissen, dann aber gaben sie doch nach, aber unter der Bedingung, daß sie selbst nicht zu kämpfen, sondern nur Zeugen der Heldentaten ihres Neffen zu sein brauchten.

Sie machten sich alsbald reisefertig. Unterwegs trafen sie einen Menschen, der in den Schößen seines Kleides Birnen trug. Die Recken grüßten ihn und frugen ihn, woher er komme. Der Mann erzählte ihnen, daß nicht weit weg von dem Orte, wo sie seien, ein Birnbaum stände, auf dem drei Drachen hausen, die ihn gefangen und zum Dienste ihrer Jungen gezwungen hatten, deshalb müsse er ihnen jeden Tag Birnen bringen. Amiran nahm ihm die Birnen ab, gab ihn frei und schritt auf den Baum zu, auf dem die drei Drachen hausten.

Zweie davon erschlug er mit dem Schwert, den dritten packte er einfach am Ohr und zauste ihn tüchtig umher, indem er ihn bald hier-, bald dorthin warf. Der Drache riß den Rachen auf und verschlang Amiran. Der aber durchschnitt den Leib des Ungetüms, kam jedoch ganz nackt und kahl wieder heraus. Seine Oheime gaben ihm frische Kleider und er setzte seinen Weg nach Filich fort. Da begegnete ihm ein Wagen, auf dem die Leiche eines ermordeten Recken lag, dessen eine Hand auf der Erde schleifte, tiefe Furchen in diese riß und sie beben machte. Die Mutter des Toten, die hinter dem Wagen ging, rief Amiran zu sich und sagte: »Ich sehe, daß du ein starker Held bist; hebe doch die Hand des Ermordeten auf und lege sie auf den Wagen!« Das tat Amiran ohne jede Anstrengung. Dann sagte ihm die Mutter des Toten: »Du bist die Ursache des Todes meines Sohnes. Ware ich nicht in[237] der Lage, in der ich bin, würde ich dir zeigen, was Reckenkraft heißt.« Weiter ging Amiran und vernichtete überall seine Feinde, so daß bald kein einziger Recke mehr übrig blieb, nicht nur in Filich, sondern auch in den umgebenden Ländern. Dann fing Amiran an, seine Kraft an gewöhnlichen Leuten zu erproben; es fielen ihm auch eine Menge Christen zum Opfer. Aber Jesus Christus machte dem bald ein Ende. Er stieg einst in der Gestalt eines gewöhnlichen Menschen auf die Erde nieder und forderte Amiran zum Zweikampf heraus. Dieser sollte auf einem der hohen kaukasischen Berge stattfinden. Jesus nahm einen Riemen, legte ihn sich um den Hals und zerriß ihn schnell in kleine Teile; dasselbe tat Amiran, aber sein Riemen verwandelte sich in eine riesige Kette – und der bisher unbesiegte Recke war durch himmlische Kraft in Fesseln geschlagen. Zu gleicher Zeit kam ein ungeheuerer Berg angewälzt, in dessen Innern sich ein eisernes Haus befand. Darin schloß Christus den an die eiserne Kette gefesselten Amiran ein. Heute noch lebt er dort; ein treuer Hund ist sein einziger Diener, der ohne Unterlaß, jahraus, jahrein, die Kette leckt, um sie so dünn zu machen, daß Amiran sie leicht zerreißen kann. Aber jeder Schmied geht jährlich am Grünen Donnerstag an seinen Ambos und tut einige Schläge mit dem Hammer, wovon die Kette Amirans wieder ihre frühere Dicke bekommt.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 236-238.
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