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[259] Als Alexander gestorben war, trauerte seine Mutter so tief um ihn, daß sie nicht die Erlaubnis gab, ihn zu begraben. Als die Hofleute sahen, daß man sie mit Worten nicht dazu überreden könne, schlugen sie ihr vor, ohne Nahrung mit dem Leichnam ihres Sohnes in einem Zimmer zu bleiben. Sie willigte ein; man schloß sie in ein Zimmer ein und hing an dessen Decke ein Brot auf. Drei Tage lang beweinte die Mutter ihren Sohn; am vierten aber wurde sie sehr hungrig, und als sie das Brot an der Decke gewahrte, wollte sie es herunternehmen. Da es aber sehr hoch oben hing, stellte sie sich auf die Leiche ihres Sohnes und holte es herunter. Das bemerkten die sie überwachenden Hofleute und sagten zu ihr:

»Du wolltest deinen Sohn nicht begraben lassen, weil du das als schimpflich für ihn ansahst; du hast dich aber nicht gescheut, auf seine Leiche zu steigen und dir Brot zu holen.«

Da überzeugte sie sich, daß ihre Hofleute Recht hatten und gab die Erlaubnis, ihn zu begraben.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 259.
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