II.

[208] Früh vor Zeiten lebte ein König mit Namen Tsoktu Ilagukssan, der eine Tochter Namens Naran Gerel (»Sonnenschein«) hatte. Wer Naran ansah, dem wurden die Augen ausgestochen; dem Manne, der in ihr Wohnzimmer trat, schlug man beide Beine entzwei: so unerbittlich hart war der König mit seinem Machtgebot. Diese Tochter Naran sprach einst zu ihrem Vater: »Da ich weder Menschen noch Tiere zu sehen Gelegenheit habe, so wird mir die Zeit lang; am fünfzehnten des Monats hätte ich Lust auszugehen und mich etwas umzuschauen.« Der König war damit einverstanden. Er liess überallhin einen Befehl des Inhaltes verbreiten: Alle Auslage-Gegenstände solle man öffentlich zur Schau ausstellen, alles Vieh lasse man herein, die Männer und Frauen dagegen sollen Fenster und Thüren schliessen und nicht heraustreten; wenn einer heraustrete, den werde er mit strenger Strafe züchtigen.

Am fünfzehnten des Monats nun fuhr Naran in einem neuen Wagen sitzend, von zahlreichen Mädchen und Frauen rings umgeben, in der Stadt umher und betrachtete sich alle Waren und Auslage-Gegenstände. Inzwischen hatte ein Minister Namens Ssaran (»Mond«) vom Söller aus, auf den er, in der Absicht die Königstochter zu schauen, emporgestiegen war, dieselbe mit Musse betrachtet. Diesen ger wahrte Naran. Sofort streckte sie einen Finger in die Höhe und machte mit der andern Hand auswärts rings um denselben eine Kreisbewegung; darauf ballte sie die Hand zusammen und liess sie wieder frei; dann legte sie zwei[208] Finger zusammen und deutete damit nach ihrem Hause hin. Ssaran stieg eiligst herab und ging in seine Wohnung. »Nun«, fragte ihn seine Frau, »hast du die Königstochter gesehen?« »Sie hat mir«, erwiderte er, »Böses gedroht; was soll ich anfangen?« »Wie hat sie dir denn gedroht?« fragte die Frau. Da machte er sie mit sämtlichen Zeichen von Naran bekannt. Die Frau sprach: »Sie hat dir keineswegs gedroht. Die angeführten Zeichen dürften wohl so zu deuten sein: Das Empor strecken des einen Fingers in die Höhe bedeutet, dass sich in der Nähe der Wohnung ein einzelner Baum befindet; dass sie die Hand auswärts um den Finger einen Kreis machen liess, damit dürfte eine Ringmauer gemeint sein; dass sie die Hand zusammenballte und dann wieder frei liess, damit dürfte sie angedeutet haben: komm in den Blumengarten; das Zusammenlegen der beiden Finger dürfte heissen: mit dir möcht' ich mich vereinen. Geh' nur hin!« Der Minister erwiderte: »Ist denn nicht das Verbot des Königs Tsoktu Ilagukssan so streng?« worauf die Frau sagte: »Wenn die Fürstentochter einladet, pflegt man da nicht zu kommen? geh; nimm diesen Edelstein und mache dich auf den Weg; der Edelstein wird dir vielleicht nötig sein.« Mit diesen Worten entliess sie ihn.

Ssaran machte sich auf, begab sich in den Blumengarten und setzte sich an den Fuss des Baumes. Inzwischen war auch Naran herausgetreten, und die beiden genossen der Freude und ruhten schlummernd bis zum Aufgang der Sonne. Da erschien ein Beamter, der die Aufsicht über den Garten führte, mit hundert Bewaffneten, erkannte die Königstochter Naran und den Minister Ssaran, ergriff sie beide, führte sie ab und setzte sie ins Gefängnis. Bei diesem Anlass sprach die Königstochter: »Ich sollte zu meinem Vater, dem Chân, gehen.« Doch der Beamte, der sie verhaftet, versetzte: »Wie viele Menschen, die dieses Mädchen geschaut haben, sind nicht schon umgekommen. Jetzt ist Naran Gerel dem Tode nahe. Dem Tode vieler Leute setze ich auf diese Weise ein Ziel. Den Leuten,[209] die dieses Mädchen geschaut, musste man die Augen ausstechen; den Leuten, die ihr nahe gekommen, die Füsse entzwei schlagen!« Und mit diesen Worten behielt er sie in Gewahrsam.

Indessen fragte Naran Gerel den Ssaran, ob er irgend ein Rettungsmittel kenne; aber der Minister erwiderte, dass es keinen Ausweg gebe. »Wie hast du denn,« fragte sie weiter, »meine Zeichen erkannt?« »Ich,« versetzte er, »habe sie nicht erkannt; meine Frau hat sie erkannt.« »Da muss wohl deine Frau sehr verständig sein,« sprach sie; »hat sie dir sonst etwas mitgegeben?« »Nichts«, sagte er, »nur diesen Edelstein hier hat sie mir gegeben.« Naran nahm den Edelstein und indem sie damit an das Fenster des Gefängnisses klopfte, rief sie: »Ihr Leute, die ihr uns bewacht, nehme einer von euch diesen Edelstein; für Menschen, die sterben sollen, ist ein Edelstein unnütz; sollte er nicht euch Lebenden einmal dienlich sein? Wer ihn aber in Empfang nimmt, der gehe hin, klopfe dreimal an das Thor des Ministers Ssaran, umwandle dasselbe dreimal und komme dann zurück.« Ein Mann nahm den Edelstein, und kam, nachdem er dreimal klopfend die Thüre des Ministers Ssaran umwandelt hatte, wieder zurück. Da Ssarans Gemahlin die Verhaftung ihres Mannes hieraus erkannt hatte, zog sie ein buntgeschmücktes Gewand an, setzte einen grossen schwarzen Hut auf, nahm ein kostbares Körbchen, in welches sie allerlei Früchte füllte, und machte sich auf den Weg in Gestalt derer, welche die Thüren der die Verbrecher aufnehmenden Gefängnisse mit Almosenspenden besuchen. Als sie zu der ihren Mann einschliessenden Thüre gelangt war, sprach sie zu dem wachehabenden Aufsichtsbeamten: »Da mein Mann heftig erkrankt ist, so lautet der Ärzte Ausspruch dahin, dass es erspriesslich wäre, wenn ich unter diesen Unglücklichen hier Speise austeilen würde; ich möchte hier eintreten und diese meine Speise reichen.« Auf diese Worte versetzte der Aufsichtsbeamte: »Bei einem Weibe sind viele Reden unnötig;[210] tritt rasch ein und wenn du ausgeteilt, so komm wieder heraus.«

Nachdem die Frau eingetreten, setzte sie der Naran Gerel ihren eigenen Hut auf und liess sie auf diese Weise entkommen; sie selbst aber blieb mit ihrem Manne ruhig abwartend zurück.

Inzwischen war der König erschienen, und als ihm auf seine Fragen der Beamte, die von ihm vorgenommene Verhaftung der Naran Gerel und des Ministers Ssaran meldete, da geriet der grosse König in Zorn und das Schwert ziehend befahl er, die beiden auf der Stelle vor ihn zu führen. Man führte sie vor, und als der König die beiden erblickte, rief er: »Wo ist Naran Gerel?« Die Frau sprach: »Wir beide wissen es nicht.« »Warum seid ihr denn verhaftet worden?« fragte der König. Der Minister antwortete: »Meine Frau hier hatte Lust den königlichen Blumengarten zu besuchen; indem ich sie hinführte, um ihn ihr zu zeigen, haben wir die Nacht da zugebracht; eine andere Schuld auf unserer Seite wissen wir nicht.« Der König sprach: »Wo auch immer der Mann und die Frau die Nacht zugebracht haben, dafür sind sie nicht strafwürdig; wie sollte man sie deshalb gefangen setzen?« Damit überliess er den kommandierenden Aufsichtsbeamten samt den hundert Mann dem Minister Ssaran auf Gnade und Ungnade. Da wagte der Aufsichtsbeamte dem Könige folgende Vorstellung zu machen: »Bei der unlängst erfolgten Verhaftung war es in der That deine Tochter Naran; den Mann aber kenne ich nicht im geringsten. Es bleibt mir freilich nichts anderes übrig als der Tod; doch lass die Tochter Naran zuvor einen Eid über Gerstenkörnern leisten, dann will ich sterben.« Der König willigte ein und befahl seiner Tochter Naran den Eid über Gerstenkörnern zu schwören.127 Bei einer solchen Gelegenheit pflegt alles, was Gerstenkorn heisst, sobald ein Mensch schwört, der vorher böses gethan hat, auf falsche Worte hin mächtig in die Höhe zu schiessen, auf wahre Worte hin wächst sicherlich nichts.[211]

Naran Gerel sprach zu ihrem Vater: »Warum soll ich, deine einzige Tochter, schwören? Mag ich nun aber eingezogen oder zuchtlos mich aufgeführt haben, vor einer zahlreichen Menge will ich den Eid leisten.« Der König ging darauf ein und liess mittelst einer Kundmachung das Volk sich versammeln.

Als die Gemahlin des Ministers Ssaran dies erfahren, bestrich sie ihren Mann am ganzen Leibe mit schwarzer Farbe, und indem sie auf diese Weise ihn ganz schwarz aussehend machte, gab sie ihm folgende Anweisung: »Zur Stunde, wann die Königstochter Naran sich daran macht, bei der Führung ihres Prozesses vermittelst Gerstenkörner den Eid zu leisten, da begieb dich, das eine Auge halb schliessend, auf einem Fuss hinkend, blindlings und blödsinnig lachend, ein als Stab dienendes Stück Holz in die Hand nehmend, unter allerlei bösartigen Bewegungen in die zahlreiche Versammlung; bei dieser Gelegenheit wird vielleicht die Königstochter Naran irgend einen Ausweg finden; den königlichen Unterthanen suche ihr Essen wegzunehmen.« Mit solchen Anweisungen entliess sie ihn. Als er nun diesen Vorschriften gemäss auftrat, sprach der König: »Entfernt doch dieses widrige, abscheuliche Wesen, das man nicht anschauen kann!« Während ihn nun die Minister, den Abscheu gegen ihn noch mehr erregend, etwas: weiter zurückstiessen, erhob sich die Königstochter Naran und sprach zu ihrem Vater also: »Während ich unschuldig bin, hat mich dieser Aufsichtsbeamte verleumdet. Indessen über diesen Gerstenkörnern hier zu schwören, verstohlene Liebe, so lange man jung heilst, gänzlich abzuschwören, das wäre gegen alle Gewohnheit. Dessen ungeachtet aber will ich, indem ich auf irgend ein Mannsbild hinweise, den Eid leisten. Wenn ich nun auf einen schönen Mann hinweisen und schwören wollte, so würde ich neuerdings mit diesem Scherz treiben. Ich zeige euch daher diesen missgestalteten Menschen hier, bei ihm will ich schwören; sprecht nur eure Zustimmung dazu aus.« Da riefen die sämtlichen[212] Minister: »Wie kann die Königstochter auf ein so hässliches, widriges Geschöpf hinweisen und bei ihm schwören?«

Doch Naran antwortete: »Das verschlägt nichts. Lasst mich einmal mit dem in Wirklichkeit verbunden gewesen sein; was für ein besonderer Mut gehört denn dazu, ein nichtiges Geständnis abzulegen?« Dabei erhob sie sich und begann also: »Von klein an bis auf heute habe ich meines königlichen Vaters Namen nimmermehr befleckt; der einzige Mann, den ich geliebt, ist dieser missgestaltete Mensch hier; mit einem anderen Menschen ausser ihm habe ich nimmer männlichen Umgang gepflogen.« In solchen Worten leistete sie ihren Eid. Da sie ihrerseits die Wahrheit gesprochen, so erhoben sich die Körner auch nicht im geringsten. Der König an der Spitze und alle insgesamt glaubten jetzt an die Unschuld der Königstochter Naran; den Aufsichtsbeamten liess er hinrichten; den Minister Ssaran liess er straflos ausgehen. –

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 208-213.
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