Der Schädel.

[409] Einst litt ein Mann an fortdauerndem, sehr argem Kopfschmerz, dessen Ursache kein Arzt zu ergründen vermochte. Da wandte er sich endlich an die erhabene, gütige Göttin Kwannon und flehte sie aufs inbrünstigste um Hülfe an. Die Göttin erhörte auch seine Gebete und ließ ihm durch den Priester sagen, er möge sich in den Wald an eine näher bezeichnete Stelle begeben; dort werde er die Ursache seines Leidens mit eigenen Augen sehen und dieselbe leicht beseitigen können.

Als er an dem angegebenen Orte angekommen war, sah er, halb von Erde bedeckt, einen menschlichen Schädel; er forschte weiter nach und fand, daß eine Baumwurzel durch den Schädel hindurchgewachsen war und angefangen hatte, denselben auseinander zu treiben. Ein Ast war aus der Augenhöhle des Todtenbeins förmlich wieder herausgewachsen, und der Schädel war ganz und gar von der Wurzel eingeengt und geklemmt. Der Mann vermuthete sogleich, daß dieser Schädel ehedem ihm selber, während einer der früheren irdischen Existenzen, die seine Seele durchwandert, angehört habe; er beseitigte die Wurzel und legte den Schädel ganz frei, und nun hörte sein Kopfschmerz augenblicklich auf. Da ward es ihm zur völligen Gewißheit, was er gemuthmaßt, und dankerfüllt pries er die Gnade, die ihm die Göttin Kwannon erwiesen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 409-410.
Lizenz:
Kategorien: