Kintoki.

[219] Um dieselbe Zeit, als Raiko und seine Genossen durch ihre Heldenthaten unsterblichen Ruhm erwarben, lebte am Hofe zu Kioto ein tapferer und braver Krieger Namens Kurando. Obwohl er stets treu und eifrig seine Pflicht erfüllte, war es doch mächtigen Feinden und Neidern gelungen, durch verleumderische Gerüchte ihm das Vertrauen des Kaisers zu rauben und ihn endlich so anzuschwärzen, daß er, um nicht als Opfer der Hinterlist seiner Gegner in Schmach und Tod zu gerathen, lieber die Flucht ergriff. Einsam und trostlos irrte er in den Wäldern um Kioto umher und fristete dort ein gar kümmerliches Dasein; er war aber wenigstens in Sicherheit und freute sich derselben um so mehr, als seine treue Gattin ihn aufgesucht und glücklich gefunden hatte, und als nun ihre gegenseitige Liebe ihnen über alle Entbehrungen hinweghalf. Auch waren sie mit vereinten Kräften weit besser im Stande, allem Ungemach zu begegnen, und selbst als die Frau die Stunde nahen fühlte, wo sie einem Kinde das Leben schenkte, wußte der Gatte alles so einzurichten, daß weder ihr noch dem Kinde das geringste Ungemach widerfuhr. Nun lebten die drei in ihrer Art glücklich und zufrieden, ohne irgend welche anderen Menschen zu sehen, als dann und wann einen armen Holzhauer, und so wäre es sicher noch lange fortgegangen, wenn nicht Kurando schwer erkrankt und endlich seinen Leiden erlegen wäre.

Jetzt fand es die Wittwe gerathen, mit ihrem Kinde, einem kräftigen Söhnlein, dem sie den Namen Kintoki gegeben, tiefer ins Gebirge zu ziehen, wo der dichtere Wald ihnen besseres Obdach und auch etwas reichere Nahrung bot, und wo ihr keine andere Gefahr drohete, als von wilden Thieren. Gegen diese wußte sie sich in einer tiefen Höhle sicher zu stellen, in welcher sie die Nächte zubrachte. Selten kamen Waldarbeiter hierher, und wenn sie Kintoki und seine Mutter sahen, so blickten sie[220] mit ängstlicher Scheu auf dieselben und nannten den Knaben das Wunderkind, die Frau aber die wilde Mutter.

Kintoki war in der That zu einem wunderbaren Knaben geworden. Alle Thiere des Waldes liebten ihn und folgten stets seinem Rufe, sogar die Tengus, die Waldkobolde, waren ihm hold. Auch fürchtete er sich nicht im mindesten vor ihnen und spielte am liebsten mit den jungen Tengus, die aber nicht immer Lust hatten, bei ihm zu sitzen, und oft lieber oben in die Bäume flogen; denn bekanntlich hat ein Tengu Flügel wie die Fledermäuse und oft auch einen Rabenschnabel. So kam es, daß einstmals solche jungen Tengus in ihr Nest auf einen großen Baum geflogen waren, als Kintoki mit ihnen sich unterhalten wollte, und Kintoki, darüber erzürnt, schüttelte den Baum so kräftig, daß das ganze Tengunest zur Erde fiel und die Jungen ängstlich nach ihrer Mutter schrieen.

Gerade in diesem Augenblicke kam es, daß der berühmte Krieger Raiko auf einem seiner vielen Streifzüge, die er gegen die bösen Geister unternahm, dort vorbeizog. Er sah mit Staunen, welch übermenschliche Kraft dieser Knabe, der ganz im Walde aufgewachsen war, schon im zartesten Alter besaß, und beschloß, ihn mitzunehmen und unter die tapfersten Krieger zu reihen, sobald er etwas älter geworden und im Gebrauche der Waffen unterwiesen wäre. Allein Kintoki wollte nichts davon wissen; er wollte weder seine Mutter, noch auch seine vielen Gespielen, Tengus und Thiere des Waldes, verlassen. Raiko fragte ihn indessen nach seinen Eltern, und als er erfahren, wo seine Mutter weilte, ging er zu ihr und stellte ihr die Sache gehörig vor. Kintoki, so sagte er, würde sicher ein berühmter Krieger werden und den Ruhm und Glanz seiner Familie wieder herstellen. Auch willigte die Mutter bald ein und beredete ihren Sohn, das Anerbieten Raiko's nicht auszuschlagen. Sie selbst zog es vor, in ihren Wäldern zu bleiben, obwohl ihr Raiko die glänzendsten Versprechungen machte. So trennten sich Mutter und Kind; allein Kintoki, der ein stattlicher Held wurde und[221] stets den Raiko auf den gefahrvollsten und ruhmreichsten Zügen begleitete, besuchte sie zu ihrer Freude noch oft in der Waldeinsamkeit, bis sie starb. Danach ward sie als Schutzgeist der Gegend von den Waldbewohnern verehrt und soll noch heutigen Tages dort wohnen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 219-222.
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