Peirun.

[321] Einst lag, nicht weit von Taiwan oder Formosa, im äußersten Südwesten des Lutschu-Archipels eine Insel, Maurigaschima, deren Einwohner von den Göttern mit vielen herrlichen Gaben beschenkt waren, sich lange Zeit deren nach Gebühr freueten und durch Fleiß und Geschicklichkeit ihren Wohlstand immerfort zu mehren wußten. So lernten sie namentlich ausgezeichnete Töpfe aus Thon bereiten und trieben mit denselben und mit der vorzüglichen Porzellanerde, die man bei ihnen grub, einen so ausgedehnten Handel, daß dieser allein schon die ganze Insel mit Reichthum erfüllte.

Der Reichthum indessen machte die Inselbewohner zuletzt hochmüthig und gottlos; sie trieben einen zügellosen Luxus und dachten dabei nicht daran, den Göttern den schuldigen Tribut zu entrichten. Der einzige Fromme und Gerechte auf der ganzen Insel war der König derselben, Peirun; so große Anstrengungen derselbe in seiner angeborenen Milde und Menschenliebe machte, seine Unterthanen zu bessern, es kehrte sich Niemand an seine Lehren, und zuletzt wurden selbst seine Beamten von der herrschenden Gottlosigkeit angesteckt.

Nun beschlossen die Götter den Untergang der ganzen Insel, welche der übrigen Menschheit ein so schlechtes Beispiel gab; nur Peirun sollte von dem Strafgerichte ausgeschlossen sein. Daher erschien ihm einer der Unsterblichen im Traume und sagte ihm, was der Götter Rathschluß über seine pflichtvergessenen Unterthanen verhängt habe. Er selber solle entfliehen; er habe zu dem Behufe ein leichtes, schnelles Schiff in Bereitschaft zu halten und darauf zu achten, ob das Antlitz der Statuen der löwenhäuptigen Tempelwächter, welche zu beiden Seiten des Haupttempels der Residenz Angesichts seines Palastes ständen, noch ihre bisherige weiße Farbe hätten. So lange dies der Fall sei, habe er nichts zu befürchten, sobald aber die Gesichter der Tempelwächterstatuen roth seien, solle er eilen, davon zu kommen.[322] Nachdem das Traumgebild ihm dies verkündet, verschwand es; Peirun aber erhob sich in tiefen Sorgen anderen Morgens von seinem Lager und eilte in seinen Rathssaal, um dort seinen Ministern und sonstigen hohen Beamten zu eröffnen, was ihm offenbart sei. Aber auch jetzt noch gingen die Ungläubigen nicht in sich, sondern sie antworteten dem Könige mit einem spöttischen Lachen. Um ihn aber so recht zu verhöhnen, schlich kurze Zeit darauf bei nächtlicher Weile einer der Spötter zu dem Tempel heran und bemalte die Gesichter der Bildsäulen, welche dem Könige als Warnungszeichen dienen sollten, mit rother Farbe. Als Peirun erwachte und die rothen Gesichter sah, schiffte er sich mit seiner Familie schleunigst ein; die Spötter aber lachten hinter ihm her, denn sie wußten ja, daß einer von ihnen die Bemalung mit eigener Hand vorgenommen, daß also das angekündigte Wunder gar nicht geschehen sei. Aber gerade das, was durch sie geschehen, war von der Gottheit gemeint, und während sie in vermeinter Sicherheit fortschlemmten und es sich wohl sein ließen, ereilte sie das verkündete Gericht. Die Insel versank ins Meer mit allem, was darauf war, und ist jetzt nur noch eine Untiefe, auf der man von Zeit zu Zeit einen oder ein paar der trefflichen Töpfe findet, welche ehedem von den Inselbewohnern angefertigt wurden. Gewöhnlich bringen sie die Fischer, die sie finden, an den kaiserlichen Hof von China oder Japan oder zu einem der Landesfürsten und erhalten hohe Summen dafür. Bei ganz ruhigem Wetter soll man noch Häuser und Straßen der Hauptstadt tief unter der Oberfläche des Wassers erblicken können.

Peirun kam nach der gegenüberliegenden Küste Chinas und erzählte seine wunderbare Rettung aus dem Untergange seines ganzen Reiches, den er vom Schiffe her noch von ferne hatte sehen können. Die Chinesen dieser Gegend, und ebenso die Japaner, feierten seitdem noch lange Zeit alljährlich das Andenken dieses merkwürdigen Ereignisses und verherrlichen den frommen Peirun, den die Götter in so ausgezeichneter Weise durch ihre Gunst geehrt haben.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 321-323.
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