Luwen.

[366] Im Tendai-Gebirge, in den höchsten Theilen des Nanling, der mächtigsten Bergkette, welche China durchzieht, lebte vor alter, alter Zeit ein frommer Holzhauer, Luwen mit Namen. Tag für Tag ging er aus, um Holz zu fällen, von dessen Erlös er lebte; unverdrossen zog er ins Gebirge, und ebenso unverdrossen kehrte er, mit schwerem Bündel auf dem Rücken, wieder heim.[366]

So war er eines Tages ins Gebirge gewandert und befand sich mitten im Walde an einer wunderlieblichen Stelle. Die Lüfte weheten so mild, der Himmel war so blau, daß er unwillkürlich in seiner Arbeit innehielt und tief aufathmete. Da fiel sein Blick auf einen Fuchs, der neugierig aus den Büschen ihn angeblickt hatte, aber schleunigst floh, als er bemerkte, daß Luwen ihn gesehen. Dieser war neugierig, wohin wohl das Füchslein laufe, und folgte ihm nach in ein Bambusdickicht, das in der Nähe lag. Nicht lange aber war er zwischen den glatten, schlanken Bambusstämmen und ihrem feinen, hellgrünen Laube hindurchgeschritten, da befand er sich vor einer Lichtung und stand athemlos still, um das wunderbare Bild nicht zu stören, das sich ihm hier darbot. Auf grünem Rasen, auf den die Sonnenstrahlen nur gedämpft durch das Bambuslaub hindurchdrangen, saßen zwei Frauengestalten von so herrlicher Schönheit, wie er nie sie gesehen hatte. Sie spielten ruhig Schach mit einander und schienen ihn nicht zu bemerken. Andächtig sah ihnen Luwen zu, ohne zu merken, wie in Windeseile die Zeit vorüberflog. Noch war der Himmel ebenso blau, die Luft ebenso lind, das glitzernde Sonnenlicht schien noch ebenso durch das Laub, kaum daß seine Strahlen ein wenig schräger durch dasselbe fielen. Endlich aber däuchte es ihn an der Zeit, den Heimweg anzutreten. Aber ach! kaum hatte er jenen wunderbaren Platz verlassen, so fühlte er, daß seine Knie steif und schwach waren; er mußte sich auf seine Axt stützen. Als er jedoch mit dem Stiele derselben den Boden berührte, da zerbrach derselbe; morsch und von Würmern ganz zernagt, zerfiel er in Staub und kleine Splitter. Und als Luwen niederblickte, da sah er einen weißen wallenden Bart, der von seinem Antlitz auf die Brust herabfiel.

Geängstet und gar mühselig gelangte er endlich in sein Heimatsdorf. Doch hier kannte er Niemand, Niemand kannte ihn, und erst nach langem, langem Umherfragen vermochte er zu ermitteln, daß seit seinem Fortgehen sieben Menschenalter verflossen waren. Siebenmal waren in den Geschlechtern der Dorfbewohner die[367] Söhne den Vätern gefolgt, während er droben kaum sieben Stunden verweilt zu haben glaubte.

Luwen zog sich von der ihm fremden Welt zurück und verbrachte den kurzen Rest seiner Tage als frommer Einsiedler. Seit seinem Tode aber verehrt ihn das Volk als einen Seligen, dessen Geist noch heute als Wohlthäter der Menschen in jenen Bergen weilt.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 366-368.
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