[346] Der Donnergott Raiden wird von den Japanern hochverehrt, weil er der segenspendende Gott ist, der den Feldern zu rechter Zeit Regen giebt und den sengenden Sonnenstrahlen durch seine Wolken Halt gebietet. Oft erscheint er in Gestalt eines Drachen, und er ist der Herrscher der Wolkendrachen, eines wunderbaren, theils in den Lüften, theils in den Fluthen und auf der Erde hausenden Geschlechtes, das an der Verehrung, die man ihrem Oberhaupte zollt, reichen Antheil nimmt.[346]
In der Umgegend des Hakusan, eines der höchsten Berge im Nordosten von dem großen Biwa-See, erzählt man, daß der Donnergott sich einst einem armen Bauern besonders hold gezeigt habe, der sich sein Leben lang geplagt hatte und nie zu Glück und Wohlstand gelangt war. Vor allem schmerzte es ihn, daß ihm die Götter das Glück, Kinder zu besitzen, versagt hatten, und sammt seiner alten guten Frau trug er zu seinen übrigen Sorgen auch noch diesen Herzenskummer mit sich herum. Nun begab er sich eines Tages auf sein Reisfeld, das hoch in einer Schlucht lag, und arbeitete aufs emsigste. Er hatte das kleine Feld sehr mühevoll und sorgsam in Terrassen abgetheilt und mit Steinmauern umgeben und es, so viel in seiner Macht lag, geschützt, damit es ihm sicheren Lebensunterhalt geben möchte. Aber all sein Mühen schien in diesem Jahre vergeblich zu sein, denn die Sonne brannte einen Tag wie den anderen, und der segenbringende Regen blieb aus. Der arme Bauer seufzte oft und schwer bei seiner Arbeit; er blickte zum Himmel auf und bat, die Götter möchten doch ein Einsehen haben und seine Feldfrucht nicht verdorren lassen. Und da wurde plötzlich der Himmel trübe; schwarze, schwere Wolken zogen von allen Seiten heran, und ehe der Bauer es sich versah, fiel der Regen in dicken Tropfen nieder, Blitze zuckten und ringsum erdröhnte der Donner. Der Bauer flüchtete in ein Dickicht, um sich ein wenig vor dem Unwetter zu schützen, und kaum hatte er ein sicheres Plätzchen gefunden, so fuhr dicht neben ihm ein greller Blitz in die Erde, so daß er geblendet die Augen schloß. Fast mit dem Blitze zugleich krachte der Donner, als solle die Erde in Stücke zerrissen werden, und der geängstigte Bauer, der auf den Boden gesunken war, konnte nichts thun als beten. Das that er denn auch sehr inbrünstig, und als er endlich gewahrte, daß das Wetter sich verzogen hatte, und daß Ruhe und Stille um ihn herrschte, da stand er auf und schauete umher. Aber was erblickten seine Augen? Ein wunderschönes Knäblein lag an eben der Stelle, wo der Blitz in die Erde gefahren war. Der Bauer war im ersten Augenblicke sehr verwundert,[347] doch hielt er sich nicht lange mit Grübeln auf, sondern nahm das Kind von Freude beseelt in seine Arme. Er machte sich sogleich damit auf den Heimweg und brachte es seiner nichts ahnenden Frau. Diese war über das Ereigniß nicht minder erfreut, und beide zogen den Knaben mit zärtlicher Liebe auf, als wäre es ihr leibliches Kind. So wuchs er zu einem schönen, kräftigen Jüngling heran, an dem die ganze Welt Freude hatte, und weil er doch ein Geschenk des Donnergottes war, so nannten ihn die Leute nicht anders als Raitaro, das heißt Donnersohn. Mit ihm war aber auch bei den armen alten Bauersleuten ein gewisser Wohlstand eingezogen, so daß sie sich nicht mehr zu beklagen brauchten, und wenn der Bauer ins Feld ging, so begleitete Raitaro ihn jedesmal, denn der Junge fand kein Vergnügen daran, sich mit anderen Kindern spielend umherzutreiben; er war froh und glücklich, wenn er draußen in den Feldern umherstreifen konnte, wenn er durch felsige Schluchten klettern, Berge ersteigen und in die Wolken schauen konnte. Obgleich das Ehepaar seinen Pflegesohn in diesem Vergnügen nicht störte und ihm alles zu Gefallen that, so wurde Raitaro doch auf einmal still und traurig. Niemand vermochte ihn aufzuheitern, und da seine Pflegeeltern großen Kummer darüber empfanden, so beschlossen sie, am Jahrestage seiner Auffindung ein Fest zu geben, damit er wieder fröhlich würde. Der Tag kam heran und das Fest ward gefeiert; man aß und trank nach Herzenslust, es wurde gespielt, gelacht und gesungen. Der alte Bauer erzählte viel Scherze aus früheren Zeiten und gedachte mit besonderer Freude des Tages, wo Raitaro aus den Wolken vom Blitze herabgeschleudert ward. Doch alle Freude und Lustigkeit half nichts; Raitaro wurde nicht vergnügter, im Gegentheil, er wurde stiller und stiller, und endlich stand er auf und sagte seinen Pflegeeltern Lebewohl. »Ja,« sagte er, »meine Zeit ist um! Es thut mir schmerzlich leid, daß ich euch verlassen muß, aber ich kann nicht länger bei euch weilen!« Und als die erstaunte Menge noch über seine Worte nachsann, da verwandelte er sich in einen Drachen, mit Flügeln versehen, die er[348] entfaltete und mit deren Hülfe er seinen heimatlichen Gefilden, den Wolken, zuflog.
Sprachlos standen Alle da und blickten ihm staunend nach. Der Bauer war nun wieder allein mit seiner Frau und sehnte sich sehr nach seinem lieben Raitaro. Allein sie waren nicht mehr arm und verlebten in Wohlstand und Behaglichkeit ihren Lebensabend.
Dem Raitaro aber und dem ganzen Drachengeschlechte, das ihre Felder zu rechter Zeit mit Regen erquickt, und das seine Huld und Macht an dem frommen und fleißigen armen Bauern so schön bewährt hatte, blieb das ganze Volk in doppelter Liebe und Verehrung zugethan bis auf den heutigen Tag.