I.

Es war einmal ein Ortsschulze Jûsif-Agha, der lebte in der Nähe von Indien; er hatte einen Vetter und war in die Schwester desselben verliebt: er ging heimlich zu ihr, als sie noch ein Mädchen war; darauf wurde sie zu Hause schwanger. »Von wem bist du schwanger geworden?« fragte sie ihr Bruder. »Ich bin von Jûsif-Agha schwanger«, antwortete sie. Die Einwohner der Stadt aber ergriffen die Partei des Bruders des Mädchens und wollten Jûsif-Agha nötigen das Mädchen zu heiraten; er antwortete: »Nachdem ihr sie mir mit Zwang habt aufdrängen wollen, mag ich sie nicht heiraten«. Darüber entstand Streit unter den Einwohnern des Fleckens; aber gegen Jûsif-Agha konnte man nichts ausrichten. Unterdessen gebar das Mädchen einen Sohn und eine Tochter, und man gab dem Sohn den Namen Mammo, und der Tochter den Namen Amîna. Als Mammo gross wurde, erkundigte er sich darnach, wer sein Vater wäre. Da wies man auf seinen Oheim und sagte ihm: »Das ist dein Vater«. »Der ist nicht mein Vater«, erwiderte er. – Darauf verliebte sich Mammo in ein Mädchen, und diese seine Geliebte fragte ihn: »Weisst du, wer dein Vater ist?« »Wer denn?« »Jûsif-Agha ist es; er hatte ein Verhältniss mit deiner Mutter, als sie noch ein Mädchen war; darauf haben die Angehörigen deines Oheims mit Jûsif-Agha Streit geführt, aber nichts gegen denselben ausrichten können; so bist du ausserehelich geboren worden«. »Ist es so?« »Ja«. – Als er nach Hause kam, ging er hin und schnitt die Goldstücke vom Kopfputz seiner Mutter ab: damit kaufte er sich ein Schwert und ein Paar Pistolen; das Schwert hing er sich um die Schulter, und die Pistolen steckte er vor sich in den Gürtel. So trat er in's Zimmer Jûsif-Agha's, der nichts davon ahnte und rief: »Mammo, komm und setze dich her«. Mammo setzte sich zu Jûsif-Agha hin und[1] sie redeten mit einander. Darauf bekamen sie Streit, Mammo zog seine Pistole heraus und richtete sie auf Jûsif-Agha; der Schuss traf in's Herz, und Jûsif-Agha schrie nur noch: »Mammo hat mich getödtet!« Da rückten die Verwandten Jûsif-Agha's, die Brüder und Söhne dem Mammo zu Leibe; aber ein Gerücht, dass man Mammo getödtet habe, drang auch zu seinem Oheim; dieser eilte in's Zimmer Jûsif-Agha's und nun gingen sie mit den Säbeln auf einander los; im Kampfe erschlug Mammo sechs von den Verwandten Jûsif-Agha's. Darauf ging er nach Hause. Alle Einwohner des Fleckens aber kamen zu Mammo mit dem Anerbieten; »Sei du unser Oberhaupt!« »Gut«, antwortete er, und wurde Schulze; aber es dauerte zwei Jahre, bis er die Amtsführung erlernt hatte. –

Unterdessen ging einer der Dorfleute in's Holz; auf den stiess ein wütender Löwe und frass den Mann sammt dem Maultiere auf. Da hiess es: »Der Mann hat sich verlaufen«, und zwei Leute gingen ihn suchen; sie erblickten Blut auf dem Boden und verfolgten die Blutspur, bis zur Höle des Löwen; an der Oeffnung derselben sahen sie die Sattelhölzer, das Beil, den Strick und den Packsattel liegen. Der Löwe aber sprang heraus, packte einen und frass ihn, der andere entfloh; er kam in das Dorf zurück und rief: »Warlich, es ist ein wütender Löwe da, der die beiden Männer getödtet hat«. »Was erzält ihr da?« fragte Mammo. »So und so ist die Sache«, erwiderten sie. Da machte sich Mammo auf, griff zu Säbel und Schild und zog gegen den Löwen, indem er eine Kuh mitnahm. Wieder kam der Löwe hervor und wurde wütend, als er sah, dass Mammo einen Säbel bei sich hatte. Vor den Augen aller Einwohner des Dorfes hielt Mammo dem Löwen, als dieser ihn packen wollte, seinen Schild entgegen, so dass der Löwe ihm nichts anhaben konnte, und versetzte ihm einen Hieb mit dem Schwerte; bis zum Mittag kämpften sie mit einander, wie zwei Männer kämpfen; endlich erlegte er den Löwen und ging nach Hause. Durch diese Tat erlangte Mammo Ruhm, und sein Name wurde weltbekannt. –

Hierauf zog ein Kaufmann von Môçul nach Indien und kehrte bei Mammo ein. »Bist du Mammo?« fragte er ihn. »Ja«. »Wir haben deinen Namen in unserer Heimat Môçul nennen hören; bist du noch unverheiratet?« »Ja«. »So passt für dich Sîne von Dscheſîre, die Tochter des Mîre-Sirâf; sie hat drei Brüder: Mîr-Ssêfdîn, Ḥasso und Tschakko; sie wohnt im Schlosse von Dscheſîre, und die Ketten ihres Hoftores sind von Gold«. Da fragte[2] Mammo: »Wer wird dorthin reisen?« »Ich«, antwortete jener. »Wenn du dorthin gehst, so bring ihr diesen Ring«, bat Mammo. »Gerne«, antwortete er. »Aber bringe mir Nachricht von ihr zurück«, trug er dem Kaufmann auf. Da ging der Kaufmann nach Indien, betrieb seinen Handel und kehrte wieder um, kam zu Mammo, nahm den Ring Mammo's mit und reiste nach seiner Heimat Môçul; dann zog er nach Dscheſîre hinauf zu Sîne. Dort erblickte er Sîne am Fenster und rief sie an, Aber sie war nicht Willens, sich mit dem Kaufmann zu unterhalten. »Sîne«, rief er noch einmal. »Was gibt's?« fragte sie. »Ich habe dir von irgendwo etwas mitgebracht«. »Was hast du mir denn mitgebracht?« »Sieh es an«, sagte er. Da löste sie den Gürtel von ihrer Hüfte und liess ihn durch das Fenster, worunter der Kaufmann stand und woran sie oben sass, hinab mit den Worten: »Knüpfe es, was es auch sei, an das Ende dieses Gürtels«. Der Kaufmann band es fest, und Sîne zog den Gürtel hinauf, dann löste sie das Ding vom Gürtel ab, beschaute es und sah, dass es ein Ring war, von dem der eine Stein ein Diamant, der andere eine Perle war, und auf dessen drittem Steine der Name Mammo's stand. »Wo befindet sich der Besitzer des Ringes?« fragte sie. »In seiner Heimat«, antwortete jener. »Ich habe seinen Namen auch schon nennen hören; aber nun will ich mich nach ihm erkundigen; ist er schön? oder nicht?« »Ein wunderschöner Jüngling«, antwortete jener; »ich bin nach Indien gegangen und nach Môçul zurückgekehrt, habe aber nirgends einen schöneren und männlicheren als ihn gefunden«. »Wirst du denn dorthin zurückkehren?« fragte sie. »Ja«. Da setzte sie sich hin und zeichnete ihr Bild, wie sie aussah, aufs Papier und schrieb zum Bilde: »Komm in unser Land; es soll fern von mir sein, dass ich einen andern Mann heirate, ausser dir selber; dass Männer Weiber suchen, ist aber keine Schande; hingegen dass Weiber Männer suchen, ist eine Schande«. Darauf gab sie dem Kaufmann den Brief, und den Ring behielt sie. Der Kaufmann reiste nach Môçul, packte seine Warenballen und zog nach Indien. Als er zu Mammo gelangte, trat er vor denselben hin. Jener rief ihm zu: »Willkommen! Rede!« »Was soll ich reden? Mammo«, antwortete dieser, zog den Brief aus seiner Busentasche und übergab ihn Mammo. Wie dieser den Brief schaute und das Bild der Sîne ansah nebst den Worten, welche sie geschrieben hatte, küsste er das Bild und fragte: »Wo ist mein Fingerring?« »Sîne hat ihn angenommen«, antwortete jener.

Zwei Jahre hindurch schickten sie sich nun Briefe; dann aber[3] ereiferte sieh Sîne über Mammo. Sie verschaffte sich für tausend Piaster einen Boten und schickte durch denselben einen Brief an ihn nach Indien, des Inhalts: wenn er kommen wolle, so möge er nun kommen; »wenn er aber nicht kommt, so heirate ich den Mîr-Akâbir, den Fürsten von Wân«. Der Mann reiste, sich nach Mammo's Wohnsitz erkundigend, bis zu demselben und übergab ihm den Brief. Nachdem Mammo ihn gelesen hatte, rüstete er sich zur Reise, stieg zu Pferde und brach mit zweiundvierzig Leuten der Stadt (es waren aber das nicht seine Brüder, wie man sonst in der Geschichte erzält) auf; diese zogen mit ihm des Weges, ohne dass er ihnen gesagt hatte, wohin er reise. Nun aber riefen sie: »Mammo!« »Ja«. »Wohin geht deine Reise?« »Ich will nach Môçul reisen«, antwortete dieser; »wer mitkommt, sei willkommen; und wer nicht mitkommen will, handle nach Belieben; ich will in die Fremde ziehen«. Da kehrten sie auf halbem Wege um und verliessen Mammo. Unterwegs kam er zu einer Quelle und legte sich bei derselben schlafen, denn es gab keine Dörfer um die Quelle. Desshalb blieb auch seine Stute ohne Futter und hungrig; Mammo aber hatte vier Brote bei sich; er zerrieb dieselben in den Futtersack der Stute; diese frass jedoch das Brot nicht; da sagte Mammo zu sich selber – denn es war Niemand bei ihm –: »Ich weiss nicht, warum sie nicht frisst«. Plötzlich bekam die Stute durch Gottes wunderbare Fügung Sprache und rief: »Mammo!« »Ja, meine treue!« »Kehre von hier nach Hause zurück!« »Das geht nicht«; antwortete er, »ohne dass ich Sîne mitbringe, geht das nicht an«. »Gut, wie du willst«, sagte die Stute und sprach nicht mehr, so viel Mammo auch versuchte die Unterhaltung fortzusetzen. – Dann sang er an der Quelle und weinte über Sîne, früh Morgens aber brach er auf und reiste eine Station weiter. Diesmal stieg er auf einer Wiese ab und legte sich schlafen, wärend die Stute weidete. Da kam eine Schlange auf ihn los und wand sich um sein Bein. »Geh herunter, Bestie«, rief er; sie aber sprach: »Habe keine Angst, ich werde dich nicht beissen; denn deine Stunde ist noch nicht gekommen«. Da ging die Schlange herunter. »Wenn deine Stunde da wäre«, fuhr sie fort, »so hatte ich dich gebissen, was du auch gesagt hättest«.

Darauf stand Mammo auf, stieg zu Pferde und machte sich auf den Weg, bis er zu den Tennen vor der Stadt Dscheſîre gelangte; da stieg er ab, um sich die Stadt von aussen anzusehen. Es wohnte daselbst ein gewisser Bakko der Schlimme, der im Rat der Angesehenen ein solches Ansehen genoss, dass, wenn er einmal[4] etwas sagte, er es nicht zum zweiten male zu sagen brauchte. Dieser Bakko hatte eine Tochter, welche ebenfalls Sîne hiess. Eben ging sie an den Fluss hinunter, um Kleider zu waschen, als sie den Mammo erblickte; da verliebte sie sich in ihn. Die Verwandten der schönen Sîne indessen hatten davon gehört, dass sie und Mammo einander Briefe zugeschickt hätten, und wenn man ihr riet: »Nimm einen Mann!« so antwortete sie: »Ich will keinen heiraten, ausser Mammo«; davon hatten alle Einwohner der Stadt, alte und junge, Kunde. – Da redete die Tochter Bakko's ihn an und fragte: »Wer bist du?« »Ich bin Mammo«, antwortete er. »Was suchst du denn?« fragte sie. »Sîne suche ich!« »Wenn du sie siehst, wirst du sie erkennen?« fragte jene. »Ja«. »Ich bin Sîne«, sagte sie. Er schaute sie an und sagte: »Nein, du bist nicht Sîne; nach der Beschreibung, welche man von Sîne gibt, ist nichts süsseres als sie in der Welt; wärend du nicht schön bist; du lügst!« »Mammo«, rief sie, »Gott weiss, ich bin Sîne«. »So ist vielleicht dein Name Sîne; aber du bist nicht die Sîne, die ich zu haben wünsche«. »Mammo!« antwortete sie; »mein Name ist Sîne und ich bin die Tochter Bakko's des Schlimmen, Sîne vom Hause des Fürsten ist meine Freundin«. »So geh und rufe sie hierher!« bat er. Darauf ging die Tochter Bakko's des Schlimmen und rief: »Sîne!« »Ja«. »Komm, wir wollen an den Fluss gehen einen Vogel zu beschauen; es ist ein fremder Vogel da, wie es keinen schöneren gibt; ich habe die Kleider liegen lassen und bin gekommen, dich zu suchen, damit du diesen Vogel dir ansiehst«. Da kam Sîne, nachdem sie ihre Schuhe angezogen hatte, in die Stadt hinunter; die Leute der Stadt und der Kaufläden aber sagten, Sîne betrachtend: »Noch nie ist Sîne aus dem Hause herausgegangen, ausser jetzt«. So gingen sie zur Stadt hinaus und kamen an's Ufer des Flusses. Wie Mammo Sîne erblickte, fiel er um vor Herzweh; sie aber setzte sich zu ihm und rieb ihm die Herzgegend, wärend die Tochter Bakko's des Schlimmen zuschaute. Dadurch, dass sie Mammo's Herzgegend rieb, kam er wieder zu sich. Nun sah sie aber Mammo an und nun bekam sie Herzweh, so dass Mammo ihr die Herzgegend reiben musste; ihre Brust aber war weiss und weich wie Seide. Da kam Sîne wieder zu sich, und nun küssten sie einander. – »Ich will nach Hause gehen«, sagte sie, »steige du zu Pferde und komm zu uns.« »Ja«, erwiderte er. Hierauf ging Sîne nach Hause, stieg auf die Zinne des Schlosses und schaute mit brennendem Herzen um sich. Mammo kam in's Haus des Fürsten, zu[5] Mîr-Ssêfdîn, und setzte sich in's Empfangszimmer. »Woher bist du?« fragte man ihn. »Ich bin ein Fremder«, antwortete er. Da sahen sie, dass er schöner war als sie selber, und hatten an ihm ihre Augenweide. Sîne aber sagte zu ihren Brüdern Tschakko und Ḥasso: »Das ist Mammo; erweist ihm Ehre und bewirtet ihn freigebig«. Daher waren Mammo und die Brüder bald unzertrennlich. – Aber zu Bakko dem Schlimmen sprach seine Tochter: »Dieser da hat mich verschmäht und an Sîne Gefallen gefunden«. »Ich will machen, dass man ihn tödte«, antwortete ihr Vater.

Eines Tages befal der Fürst Ssêfdîn: »Lasst uns auf die Gasellenjagd gehen!« auch Mammo forderte er auf, und dieser sagte zu. Sîne aber sagte zu Ḥasso: »Nehmt Mammo nicht mit auf die Jagd; er ist ein Gast; es wäre eine Schande! Bakko könnte ihn tödten lassen!« »Fürchte nichts, Schwester«, antwortete jener, »wir sind ja bei ihm«. – Darauf sattelten die Diener die Pferde; Sîne aber stieg ebenfalls von ihrem Zimmer herunter und machte Mammo's Stute zurecht. Tschakko und Ḥasso sahen sie wol, aber sagten nichts; das blieb in ihrem Herzen verschlossen; der Fürst Ssêfdîn aber merkte nichts davon. Sie gingen auf die Gasellenjagd. Da sprang eine Gaselle auf, und man rannte ihr nach, bis Mammo sie einholte; als er sie dem Fürsten Ssêfdîn geben wollte, sagte dieser: »Nein, sie sei ein Geschenk für dich«. »Ich nehme es dankbar von dir an,« erwiderte Mammo. Dann aber wandte er sich zu Ḥasso: »Ich bin durstig geworden und will darum nach Hause gehen und warten, bis ihr zurückkehrt«. »Gehe nur«, sagte dieser. Hierauf ging Mammo und verliess sie. Sîne stand indessen auf dem Schlosse, indem sie auf die Strasse blickte und dachte: »Wann wird Mammo zurückkehren?« Da kam Mammo heran, stieg in das Zimmer hinauf, und nun küssten und umarmten sich Sîne und er einander. Darauf aber kamen auch die Brüder zurück und stiegen zum Zimmer hinauf, so dass sie ihr keinen Weg offen liessen zum Hinausgehen; desshalb schlüpfte sie hinter Mammo's Rücken, und er deckte sie mit seinem Pelz zu. Aber nun kam auch der Fürst Ssêfdîn, wärend Mammo da sass. Er begrüsste ihn, Mammo erhob sich nicht vor ihm; wäre er aufgestanden, so wäre Sîne zum Vorschein gekommen. Ssêfdîn und Bakko setzten sich ebenfalls, Letzterer sagte zu Mammo: »Der Fürst Ssêfdîn hat dich begrüsst, und du bist nicht vor ihm aufgestanden«. Mammo antwortete: »Er ist ja wie mein älterer Bruder!« Ḥasso und Tschakko aber wussten, dass Sîne unter Mammo's Pelz versteckt war; daher winkten sie einander mit den Augen.[6] Sie sagten zu Mîr-Ssêfdîn: »Steh auf, wir wollen in deinen Garten gehen«. »Ich mag nicht mitgehen«, antwortete der Fürst und wurde zornig. Da ging Ḥasso hin, schlug seine Frau und legte Feuer an sein Haus, um Mîr-Ssêfdin aus dem Zimmer aufstehen zu machen, damit Sîne hinter Mammo hervorkommen könnte; Mammo's wegen handelte er so. In Folge dessen kam man dem Fürsten Ssêfdîn berichten, dass Ḥasso seine Frau geschlagen und an sein Haus Feuer gelegt habe. Jetzt ging Mîr-Ssêfdîn aus dem Zimmer, nach dem Hause Ḥasso's hin, in Begleitung von Bakko dem Schlimmen, und da nun ausser Mammo und Sîne Niemand mehr im Zimmer blieb, kam sie unter dem Pelz hervor und stieg in ihr Oberzimmer hinauf. Bakko aber erzälte dem Mîr-Ssêfdîn: »Mammo ist desswegen nicht vor dir aufgestanden, weil Sîne unter seinem Pelz versteckt war«. Da geriet Mîr-Ssêfdîn mit Ḥasso in Streit. Ḥasso aber und Tschakko stiegen grollend zu Pferde und reisten hierher nach Damaskus. –

Unterdessen warf Mîr-Ssêfdîn den Mammo in's Gefängniss; Sîne aber pflegte an die Thüre des Gefängnisses zu kommen, indem sie über Mammo weinte; dann sagte Mammo: »Sîne, weine nicht! es zehrt wie Feuer an meinem Herzen«. Jedoch sie weinte, und Mammo weinte, bis letzterer aus Gram und Grimm dem Tode nahe kam. Einmal kam ein Derwisch und fragte sie: »Warum weinst du?« Da erzälte sie es dem Derwisch und fragte ihn: »Wohin gehst du, Derwisch?« »Ich gehe auf die Wallfahrt«. »Gehst du nicht nach Damaskus?« »Freilich,« antwortete er. »So geh und sage meinen Brüdern: Bakko hat Mammo festnehmen lassen, und jetzt wird er bald sterben; desshalb kommt und verweilt euch nicht«. »Gib mir einen Kuss«, bat der Derwisch. »Komm, küsse mich um Mammo's willen«, antwortete sie. Da küsste er sie und zog davon. – Sie aber pflegte Mammo mit Essen zu versorgen; er jedoch genoss nichts; endlich starb er; auch Sîne brach vor Gram und Grimm todt zusammen. Da legte man Sîne und Mammo in ein und dasselbe Grab, indem man ihre Rücken einander zukehrte; durch ein Wunder von Gott aber wurden ihre Gesichter einander zugekehrt. – Der Derwisch ging unterdessen hin, fand Tschakko und Ḥasso und richtete ihnen die Botschaft aus. Jene stiegen zu Pferde und kehrten in ihre Heimat zurück. Daselbst fragten sie: »Wo ist Mammo?« »Er ist gestorben«. »Wo ist Sîne?« »Sie ist gestorben«. Da gingen sie hin, öffneten das Grab und weinten um sie. Mîr-Ssêfdîn und Bakko begleiteten sie dorthin, und letzterer sprach: »In diesem Leben liebten sie einander[7] und in jenem lieben sie einander«. »Wie so?« fragten jene. »Wir haben ihre Rücken gegen einander gelegt; nun haben sie einander die Gesichter zugekehrt«. Da sagte Tschakko: »So lange sie am Leben waren, hat er nicht von ihnen gelassen und auch nun, da sie todt sind, lässt er nicht ab von ihnen«. Nach diesen Worten führte er einen Schwerthieb auf Bakko und tödtete ihn. Ein Tropfen seines Blutes aber fiel in das Grab zwischen Mammo und Sîne hinein; dieser wurde zum Dornstrauch zwischen den beiden; darauf schloss man das Grab wieder.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 1-8.
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