Der Wahrsager.

[250] Es war einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann war in seinen besten Jahren, und da er in mehrerlei Handwerk geschickt war, so konnte er, wenn auch nicht in Reichtum, doch ganz leidlich für sich leben. Er mochte vierzig-fünfzig Jahre alt sein, doch die Mühen der Zeit hatten Haar und Bart weiss gefärbt, so dass man ihn für siebzig-achtzig Jahre alt halten konnte.

Als eines Tages seine Frau in's Bad ging, bemerkte sie dort eine grosse Menschenmenge; die anderen Frauen, die auch sich zu waschen gekommen waren, sagen ihr, dass heute die Frau des Oberwahrsagers in's Bad kommen werde, so dass sie in dem grossen Durcheinander kaum einen Sitzplatz finden; wenn sie sich irgendwo hinsetzen, jagt sie die Badefrau sofort weg und sie ziehen sich dorthin zurück, wo man sie hinweist. Inzwischen kommt mit Sang und Klang die Frau des Wahrsagers gezogen; weil sie nun Wöchnerin war, so wurde sie von vielen anderen in's Bad begleitet. Die Badefrau ist der Hoffnung, dass sie ihr ein schönes Geschenk entlocken wird und weiss vor lauter Ehrfurcht kaum, wo sie ihr einen Sitz anweisen soll. Unsere arme Frau sieht dies alles, nimmt ihr Bad und begibt sich gegen[251] Abend nach Hause. Da sie nun durch die Zurücksetzung sehr gekränkt war, sagte sie ihrem Manne: »Hörst du Mann, entweder verlass' ich dich, oder du wirst Wahrsager.« Der Mann antwortete hierauf: »Aber Frau, ich bin ja kaum im Stande mein tägliches Brot zu erwerben. Wie sollte ich mich auf's Wahrsagen verstehen, da ich nicht einmal Brot und Salz niederschreiben kann? Wie könnte ich deinem Wunsche nachkommen?« Doch die Frau gibt nicht nach, er muss Wahrsager werden, oder sie verlässt ihn.

Da die Frau von ganz annehmbarer Schönheit war, wollte er ihr nicht entsagen, beginnt zu sinnen, was da wohl zu tun sei. Er geht in's Kaffeehaus und wie er sich dort über die Sache den Kopf zerbricht, geht einer seiner Freunde hin und fragt ihn, warum er so in Gedanken vertieft sei, worüber er nachdenke. Unser Mann erzählt ihm sein Leid. Dieses Freundes Geliebte war nun die Badefrau. Da sagt der Freund sofort: »Sei getrost Bruder, ich werde deinem Übel abhelfen.« Damit steht er auf, geht zur Badefrau und erzählt ihr die Sachlage. Die Frau entgegnet hierauf: »Der Mann soll an diesem und diesem Tage vor das Tor des Bades herkommen, er soll Papier, Feder, Tintenfass und dergleichen vor sich hinlegen und soll, wie dergleichen Wahrsager zu tun pflegen, auf dem Papier herumkritzeln und herumstreichen. Das Übrige werde schon ich besorgen.« Damit kommt der Mann zurück und sagt dies seinem Freunde. Dieser wusste zwar nicht einmal, was Schreiben und die Feder halten heisse, ging aber darum doch in den Laden, kaufte sich ein Schreibzeug, zu Hause füllte er in eine zerbrochene Schale etwas Tinte, versah sich kurz und gut mit Papier und Feder, ging zum Tore des Bades hin, liess sich dort nieder, so dass alle, die dort kamen und gingen, ihn für einen Hodscha ansahen.

An jenem Tage kam die Frau des Oberwahrsagers wieder[252] in's Bad; während die Bademagd sie wäscht und badet, stiehlt sie ihr, auf Weisung der Badefrau, den kostbaren Ring vom Finger, den die Badefrau dann in das Kehricht, welches sich im Kanal gesammelt hatte, verbarg und dies alles dem Manne vor dem Tore berichtete. Als sich nun, um kurz zu sein, alles gebadet hatte und herauskam, beginnt die Frau des Wahrsagers ein lautes Gejammer um ihren verlorenen Ring. Die Badegäste rennen und laufen zu und durcheinander, und während des Aufruhres sagt die Badefrau: »Da vor dem Tore sitzt ein Hodscha, man könnte den wahrsagen lassen, der ist um solch verschwundene Sachen sehr bewandert.« Sofort ruft man den Hodscha und erzählt ihm die Geschichte. Da er nun davon wusste, so tut er anfangs etwas schwer, will mit der Sprache nicht recht heraus, sagt aber endlich: »Der Ring ist an einem engem Orte im Kehricht.« »Sieh mal,« ruft die Badefrau, »daran habe ich nicht einmal gedacht!« schickt sofort die Bediensteten und lässt ihn im Kanal suchen, wo sie ihn im Kehricht wirklich finden. Der Hodscha bekommt anständig viel Bakschische geschenkt und kehrt fröhlich heim.

Nach einigen Tagen ging im Seraj auch der Ring der Sultana in Verlust. Eine ihrer Sklavinnen hatte ihn gestohlen. Man durchsucht alles um ihn zu finden; da kommt die Frau des Oberwahrsagers dazu und wie sie von der Sache hört, erwähnt sie den Hodscha, man möge ihm den Ring suchen lassen. Alsbald wird er geholt. Unser Mann, der seitdem von seiner Frau keine Ruhe hatte, sass jetzt immer vor dem Tore des Bades. Man kommt zu ihm aus dem Seraj und führt ihn vor die Sultana, die also zu ihm spricht: »Hör mal, Hodscha, du musst meinen Ring, wo immer er sein mag, herbeischaffen; bis morgen hast du Zeit. Wenn du ihn nicht findest, lass' ich dir den Kopf abschlagen.« Damit führten sie ihn in ein einsames Zimmer. Der Hodscha fleht[253] zu Allah und sagt: »O Schöpfer mein, du weisst es; morgen ist meine Seele in deiner Hand!«

Derweil hatte die Sklavin, die den Ring gestohlen hatte, grosse Furcht, entdeckt zu werden; der Schlaf flieht ihre Augen und sie fasst endlich den Entschluss, da es ohne dies umsonst ist, die Hülfe des Hodscha zu erbitten und schleicht langsam in sein Zimmer. Der Hodscha fürchtet sich aber noch mehr und glaubt, als er die Sklavin kommen hört, dass es schon Morgen sei. Die Sklavin wirft sich ihm zu Füssen und sagt: »O bester Hodscha, ich habe den Ring; wenn man es erfährt, ist's um mich getan. Versage mir deine Hülfe nicht,« und jammert und fleht zum Hodscha. »Allah hat mir auch heute geholfen«, denkt sich der Hodscha und ermuntert das Mädchen frei zu reden, er werde ihr aus der Not helfen. Die Magd erzählt ihm alles. Da sagt der Hodscha: »Geh' hin, meine Tochter, und ohne dass es jemand bemerken könne, lass eine Gans den Ring verschlucken und brich ihr einen Fuss. Geh, tue was ich gesagt und sei ohne Furcht.« Das Mädchen tut, wie der Hodscha geheissen.

Als der Morgen erschienen war, lässt der Padischah den Hodscha holen und dieser sagt: »Mein Schah, die ganze Nacht bis zum Morgen habe ich die Sache erforscht und erwogen. Im Sande sind Tiere sichtbar. Lasse alles Geflügel, Hühner, Hähne, Gänse, Truthähne, soviel nur ihrer sind, in den Garten treiben.«. Der Padischah lässt dies sofort geschehen, und begibt sich mit grosser Begleitung, dem Hodscha an der Spitze, in den Garten. Der Hodscha hält Papier und Tinte in der Hand, und kritzelt drauf los; da bemerkt er, dass eine Gans hinkt und sagt: »Mein Schah, diese lahme Gans lass fangen und schlachten, in ihrem Magen ist der Ring,« Die Gans wird flugs geschlachtet und als der Ring zum Vorscheine kommt, ist alles erstaunt.

Nur der Schah geht im Garten auf und ab, sieht eine[254] Heuschrecke und fängt sie: »Nun Hodscha, was hab ich in meiner Hand, rate?« Dem Hodscha bleibt das Wort in der Kehle stecken, er stottert hin und her und sagt: »Mein Schah, dich kann man nicht belügen!« und mit der Absicht alles von Anfang an zu gestehen sagt er: »Grashupfer, Grashupfer, einmal ist dir der Sprung gelungen, zweimal ist er dir gelungen, das drittemal bist du hängen geblieben, Grashupfer.« Auf diese Worte öffnete der Schah die Hand und jedermann sah, dass es eine Heuschrecke war. Alle klatschten dem Hodscha Beifall, der selbst höchlichst überrascht war. Dem Padischah gefiel die Geschichte, er machte den Hodscha zum Oberwahrsager, schenkte ihm mehrere Konaks. So lebte nun der Hodscha ruhig bis an sein seliges Ende.

Quelle:
Kúnos, Ignaz: Türkische Volksmärchen aus Stambul. Leiden: E.J.Brill, (1905), S. 250-255.
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