[149] 53. Die Drachenprinzessin

Im Dungting-See ist ein Berg. In dem Berge ist ein Loch. Es ist so tief, daß es keinen Boden hat.

Einst ging ein Fischer dort vorüber, der glitt aus und fiel hinein. Er kam in eine Gegend voll gewundener Wege, die über Berg- und Talhänge führten mehrere Meilen weit. Schließlich kam er an ein Drachenschloß, das auf einer großen Ebene lag. Dort gab es grünen Schlamm, der reichte ihm bis an die Knie. Er ging zum Tor des Schlosses. Ein Drache bewachte es; der spie Wasser, das in lichten Nebel zerstäubte. Innerhalb des Tores war ein kleiner, ungehörnter Drache, der hob den Kopf und zeigte ihm die Krallen und ließ ihn nicht hinein.

Der Fischer brachte mehrere Tage in der Höhle zu. Er stillte seinen Hunger mit dem grünen Schlamm, der wie Reisbrei schmeckte. Schließlich fand er sich wieder heraus. Er erzählte, was ihm begegnet, dem Amtmann; der berichtete die Sache an den Kaiser. Der Kaiser berief einen Weisen und befragte ihn darüber.

Der Weise sprach: »Diese Höhle hat vier Gänge. Der eine Gang führt an das Südwestufer des Dungting-Sees, der zweite Gang führt in ein Tal des Vier-Stromlandes, der dritte Gang mündet in einer Höhle des Lofuberges, der vierte auf einer Insel im Ostmeer. In dieser Höhle wohnt die siebente Tochter des Drachenkönigs vom Ostmeer, die über seine Perlen und Schätze wacht. Vor alter Zeit traf es sich einmal, daß ein Fischerknabe ins Wasser tauchte und eine Perle unterm Kinn eines schwarzen Drachens hervorbrachte. Der Drache hatte geschlafen; darum hatte[149] der Knabe die Perle unverletzt heraufgebracht. Die Schätze nun, die die Drachentochter in Verwahrung hat, sind Tausende und Millionen solcher Kleinodien. Einige tausend kleiner Drachen behüten sie in ihrem Dienste. Die Drachen haben die Eigenheit, daß sie das Wachs scheuen. Sie lieben schöne Jaspissteine und Hohlgrün und essen gern Schwalben. Wenn man einen Boten sendet mit einem Brief, so kann man kostbare Perlen erhalten.«

Der Kaiser war hocherfreut und setzte eine große Belohnung aus für den, der fähig sei, als Bote in das Drachenschloß zu gehen.

Erst meldete sich ein Mann, namens So Pi-Lo. Der Weise aber sprach: »Ein Urahn vor dir hat einmal über hundert Drachen des Ostmeers getötet und wurde schließlich von den Drachen umgebracht. Die Drachen sind deinem Geschlecht feind, du darfst nicht gehen.«

Dann kam ein Mann aus Canton, Lo Dsï-Tschun, mit zwei Brüdern, der berichtete, daß Vorfahren von ihm mit dem Drachenkönig verschwägert gewesen seien. Sie seien daher mit den Drachen auf gutem Fuß und wohlbekannt und bäten, die Botschaft übernehmen zu dürfen.

Der Weise fragte: »Habt Ihr den Stein noch, der die Drachen zwingt?«

»Ja,« sprachen sie, »wir haben ihn hier mitgebracht.«

Der Weise ließ sich den Stein zeigen; dann sprach er: »Dieser Stein taugt nur, den Drachen, der Wolken macht und Regen niedersendet, zu bezwingen, er taugt nicht für den Drachen, der des Meerkönigs Perlen wahrt.« Dann fragte er weiter: »Habt ihr Drachenhirnduft?«

Als sie verneinten, sprach der Weise: »Wie wollt ihr da den Drachen zwingen?«

Der Kaiser sprach: »Was tun?«

Der Weise erwiderte: »Im Westmeer gibt es fremde Kauffahrer, die mit Drachenhirnduft handeln. Man muß hingehen und es bei ihnen suchen. Auch weiß ich einen Heiligen, der verstand die Kunst der Drachen und hat[150] zehn Pfund des Drachensteins bereitet. Auch danach muß man jemand schicken.«

Der Kaiser sandte Boten aus. Die trafen einen Schüler jenes Heiligen und erlangten von ihm zwei Splitter Drachenstein.

Der Weise sprach: »Das ist der Rechte.«

Abermals vergingen einige Monate, da ward auch eine Pille Drachenhirnduft herbeigeschafft. Der Kaiser war hocherfreut und ließ durch seine Juweliere aus dem feinsten Jaspis zwei kleine Büchsen schneiden. Die wurden mit der Asche des Wutung-Baumes poliert. Dann ließ er aus dem besten Hohlgrün eine Essenz bereiten, die mit Meerfischleim verklebt und im Feuer gehärtet wurde. Zwei Vasen wurden daraus gemacht. Dann ließ er die Boten sich an Leib und Kleidern mit Baumwachs einreiben und gab ihnen fünfhundert geröstete Schwalben mit.

So gingen sie in die Höhle hinein. Als sie ans Drachenschloß kamen, da roch der kleine Drache, der die Tür verwahrte, das Baumwachs. Er duckte sich und tat ihnen nichts. Da gaben sie ihm hundert geröstete Schwalben als Bestechung, daß er sie bei der Drachentochter meldete. Sie wurden vorgelassen und brachten die Hohlgrünvasen und die Jaspisbüchsen und die vierhundert gerösteten Schwalben als Geschenk dar. Die Drachentochter nahm sie gnädig auf, und sie entfalteten den Brief des Kaisers.

Im Schlosse war ein tausendjähriger Drache, der konnte sich in einen Menschen verwandeln und verstand es, die Menschensprache zu dolmetschen. So erfuhr denn die Drachentochter, daß der Kaiser ihr das Geschenk gemacht, und sie erwiderte es mit einer Gabe von drei großen Perlen, sieben kleinen Perlen und einem ganzen Scheffel gewöhnlicher Perlen. Die Boten verabschiedeten sich, ritten auf einem Drachen mit ihren Perlen davon und waren im Augenblick am Ufer des Yangtsekiang angelangt. Sie begaben sich nach Nanking, der kaiserlichen Hauptstadt, und übergaben dort die Perlenkleinodien.[151]

Der Kaiser war hocherfreut und zeigte sie dem Weisen. Der sprach: »Von den drei großen Perlen ist eine eine göttliche Wunschperle dritten Ranges, und zwei sind schwarze Drachenperlen mittlerer Güte. Von den sieben kleinen Perlen sind zwei Schlangenperlen, und fünf sind Muschelperlen. Sie alle sind ersten Ranges. Die übrigen Perlen sind teils Meerkranichperlen, teils Schnecken- und Austernperlen. Sie kommen den großen Perlen an Wert nicht gleich, doch finden sich auf Erden wenig ihresgleichen.«

Der Kaiser zeigte sie darauf auch allen seinen Dienern. Die hielten die Worte des Weisen für leeres Gerede und glaubten nicht daran.

Der Weise sprach: »Die Wunschperlen ersten Ranges leuchten vierzig Meilen weit, die mittleren Ranges zwanzig Meilen und die dritten Ranges zehn Meilen. Soweit ihr Schein reicht, kommt nicht Wind noch Regen, noch Donner, noch Blitz, noch Wasser, noch Feuer, noch Waffen. Die Perlen des schwarzen Drachens sind neunfarbig und leuchten bei Nacht. Soweit ihr Schein reicht, ist das Gift von Schlangen und Kerfen wirkungslos. Die Schlangenperlen sind siebenfarbig, die Muschelperlen fünffarbig. Sie alle leuchten bei Nacht. Die fleckenlosen sind die besten. Sie entstehen im Bauche der Muschel und nehmen mit dem Monde zu und ab.«

Als einer fragte, wie man die Schlangen- und die Kranichperlen unterscheiden könne, da sprach der Weise: »Die Tiere selbst erkennen sie.«

Der Kaiser ließ nun heimlich eine Schlangen- und eine Kranichperle auswählen und tat sie unter einen ganzen Scheffel gewöhnlicher Perlen und goß sie auf dem Hofe aus. Dann holte man eine große gelbe Schlange und einen schwarzen Kranich und setzte sie unter die Perlen. Sofort nahm der Kranich die Kranichperle in den Schnabel und begann zu singen und zu tanzen und umherzuflattern. Die Schlange aber schnappte nach der Schlangenperle und ringelte sich in vielen Windungen umher. Als das die Leute[152] sahen, da fügten sie sich der Rede des Weisen. Auch mit dem Schein der großen und der kleinen Perlen verhielt es sich genau so, wie der Weise es gesagt hatte.

Die Boten hatten in dem Drachenschlosse eine feine Kost bekommen wie Blumen, wie Kräuter, wie Salbe, wie Zucker. Einen Rest davon hatten sie in die Hauptstadt mitgebracht; doch wie sie an die Luft kam, ward sie fest wie Stein. Der Kaiser befahl, sie in dem Schatzhaus aufzuheben. Dann verlieh er den drei Brüdern Rang und Titel und beschenkte jeden mit tausend Rollen feinen Seidenzeugs. Er ließ auch nachforschen, warum wohl jener Fischer, als er in die Höhle geriet, von den Drachen nicht umgebracht worden war. Da stellte sich heraus, daß seine Fischerkleidung mit Leinöl und Baumwachs getränkt war. Die Drachen hatten sich vor dem Geruch gefürchtet.

Quelle:
Wilhelm, Richard: Chinesische Volksmärchen.Jena: Eugen Diederich, 1914, S. 149-153.
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