[66] 20. Die Geburt der Sonne

Es war einmal eine Frau, die jätete den ganzen Tag über in ihrem Garten an der See Unkraut aus. Eines Tages sah sie einen großen Fisch in der Brandung spielen; sie ging auf das Riff hinunter, wo die Brandung sich brach, und watete in die See hinaus. Der Fisch rieb sich an ihren Füßen und schnupperte an ihren Hüften herum. Und jeden Tag, wenn die Frau in die See hinausging, kam der Fisch wieder und spielte mit ihr das [66] gleiche Spiel. Nach einiger Zeit schwoll die Hüfte der Frau und wurde trotz der heißen Blätterkissen, mit denen sie sich behandelte, immer größer und dicker. Als die Geschwulst anfing heftig zu schmerzen, bat sie ihren Vater, sie doch in der gewohnten Weise mit einem Steinsplitter zu öffnen. Er tat es, und aus dem Einschnitt kam ein Knabe heraus. Die Frau wusch das Kind, schnitt die Nabelschnur ab, setzte sich ans Feuer und gab ihm zu trinken.

Der Knabe wuchs mit den anderen Dorfkindern auf; als sie eines Tages Speerwerfen nach Bäumen und Büschen spielten, da schleuderte das beingeborene Kind Dudugera seine Spielspeere nicht nach den Baumstümpfen, sondern nach einem Gefährten. Die andern Knaben wurden darüber böse, sie schalten ihn und sagten, sein Vater wäre ein Fisch, und er solle nur zu ihm zurückkehren. Dann gingen die Kinder ins Dorf und erzählten ihren Müttern, daß Dudugera Speere nach ihnen geworfen hätte. Auch die Mutter des Übeltäters war darüber erzürnt, doch fürchtete sie gleichzeitig, daß man ihrem Jungen nun deswegen etwas antäte. Sie fragte daher ihre Mutter, wo sie ihn sicher unterbringen könnte und folgte schließlich ihrem Ratschlage und sandte ihn zu seinem Vater.


20. Die Geburt der Sonne

Sie ging mit Dudugera an den Strand; der große Fisch schwamm herbei, nahm das Kind ins Maul und brachte es in ein Land, das weit weg im Osten liegt. Ehe Dudugera sich jedoch von seiner Mutter verabschiedete, sagte er, sie möchte doch den Verwandten raten, Zuckerrohr, Taro und Bananen fortzunehmen und die Felder im Schatten des Abhangs vom großen Duyau-Felsen anzulegen, sie selber sollten auch dahin ziehen und in seinem Schatten leben; denn nachdem er sie verlassen hätte, würde er auf eine [67] Pandanus-Palme und darauf in den Himmel klettern; alle Bäume, Pflanzen und Menschen in den Dörfern müßten sterben; nur seine Freunde würden gerettet werden, wenn sie ihm gehorchten und im Schatten des Duyau-Felsens Schutz suchten.

Die Prophezeiung des Dudugera traf ein; das Wasser vertrocknete, die Bäume welkten, die Felder trugen keine Früchte mehr, und schließlich starben alle, auch die Menschen, Schweine und Hunde, in der großen Hitze.

Doch eines Morgens stieg die Mutter von Dudugera mit einem Gefäß voll Kalk auf einen Hügel; und als die Sonne heraufkam, da blies sie ihr Kalk ins Gesicht; sie mußte die Augen schließen, und nun war es nicht mehr so heiß wie vordem; es regnete sogar etwas; am andern Morgen zeigten sich dicke Wolken und hinter ihnen stieg die Sonne herauf, gerade so wie sie es häufig auch heute noch tut.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 66-68.
Lizenz:
Kategorien: