[124] Und ein andermal war in einem andern Königreiche ein anderer König und eine andere Königin. Sie hatten nur ein einziges Kind und das war eine kleine Prinzessin, und die war noch ganz klein, als ihre Mutter zum Sterben krank wurde. Als die Königin nun merkte, daß sie nur noch kurze Zeit zum Leben übrig habe, rief sie den König und sagte: »Mein lieber Herr und Gatte! Damit ich ruhig sterben kann, mußt du mir ein Ding versprechen, und das ist, daß du unserm Kinde nie etwas abschlägst, worum es dich bittet, wenn dir die Erfüllung der Bitte irgend möglich ist.« Das versprach ihr der König auch, und bald darauf starb sie.
Der König trauerte im innersten Herzen um sie und vermißte sie mit Schmerzen; und nur das Töchterchen [125] war sein einziger Trost. Die Prinzessin wuchs daheim bei ihm auf und die Erfüllung der Versprechens, das er der Königin gemacht, fiel ihm ungemein leicht: er schlug dem Kinde nie eine Bitte ab. Dadurch wurde es zwar ein wenig verwöhnt und verzärtelt, aber sonst war es doch ein recht gutes und liebes Kind, dem nur die Mutter bei der Erziehung fehlte, weshalb es auch oft so eigenthümlich und trübsinnig war. Die Prinzessin hatte keine Lust zu Spiel und Scherzen wie andere Kinder ihres Alters; aber allein im Wald und im Garten zu wandeln, das liebte sie, und Blumen und Vögel wie überhaupt alle Arten von Thieren liebte sie ebenfalls und außerdem las sie sowohl Gedichte als Geschichten sehr gerne.
In der Nähe wohnte da die Witwe eines Grafen, die eine Tochter hatte, welche ein wenig älter als die Prinzessin war. Das war aber kein gutes, sondern ein eitles, selbstsüchtiges und hartherziges Mädchen. Aber sie war klug, wie auch ihre Mutter, und konnte sich gut verstellen, wenn sie dabei nur ihre Rechnung fand. Die Gräfin-Witwe wußte es so einzurichten, daß ihre Tochter oft und viel mit der kleinen Prinzessin zusammenkam und Mutter und Tochter gaben sich alle erdenkliche Mühe, ihr zu gefallen. Sie thaten alles, was sie nur konnten, um der Prinzessin ein Vergnügen [126] zu bereiten und sie aufzumuntern und bald konnte diese eine der beiden gar nicht mehr entbehren.
Und das war es, was die Gräfin-Witwe wollte; und als sie sah, daß sie es wirklich dahin gebracht, ließ sie eines Tages der Prinzessin von ihrer Tochter unter vielen Thränen erzählen, daß sie nun von einander scheiden müßten, weil sie und ihre Mutter weit fort in ein anderes Land zögen. Da lief die kleine Prinzessin sogleich zur Gräfin-Witwe und sagte, daß sie mit ihrer Tochter nicht fortreisen dürfte, weil sie ohne sie nicht sein könnte und sich zu Tode grämen würde, wenn sie sie doch verließen. Da that die Gräfin-Witwe als wäre sie darüber sehr gerührt und sagte zur Prinzessin, daß es nur ein Mittel gäbe, sie im Lande festzuhalten und das wäre, – daß sie der König heiratete. Dann könnten beide, Mutter und Tochter, immer bei ihr bleiben und sie wußten gar nicht, wie schön sie ihr die Zukunft ausmalen sollten und wie gut sie es dann haben würde, wenn dies geschähe.
Da ging die Prinzessin zu dem König ihrem Vater hinauf und bettelte und bat ihn, daß er sich mit der Gräfin-Witwe verheiraten möchte, weil diese sonst fortreisen und sie die einzige Freundin, die sie hätte, verlieren würde und sich deshalb zu Tode grämen [127] müßte. »Du würdest es wohl bereuen, wenn ich es thäte,« sagte der König, »und ich mit dir, denn ich habe gar keine Lust zu heiraten und am allerwenigsten ein Vertrauen zu der gleißnerischen Gräfin und ihrer gleißnerischen Tochter.« Aber die Prinzessin hörte nicht auf zu weinen und zu bitten, bis er ihr endlich ihre Bitte zu erfüllen versprach. Und dann freite er um die Gräfin-Witwe, die sogleich ihr Jawort gab. Es wurde Hochzeit gehalten und die Gräfin war jetzt Königin und der jungen Prinzessin Stiefmutter geworden.
Damit war aber auch ihre Liebenswürdigkeit augenblicklich zu Ende. Sie that nichts anderes mehr, als ihre Stieftochter quälen, plagen und drillen, während sie es ihrer eigenen Tochter an gar nichts fehlen ließ. Die Tochter kümmerte sich jetzt auch nicht mehr im geringsten um die Prinzessin und that ihr etwas Böses an, wo sie nur konnte.
Dem König, der dies alles leicht bemerken konnte, ging es sehr zu Herzen, denn er liebte seine Tochter innig, daher sagte er auch einmal zu ihr: »Ach ja, mein armes Töchterchen, dir geht es jetzt wahrlich nicht gut und du wirst das, worum du mich so sehr gebeten, gewiß schon oft bereut haben. Aber jetzt ist es zu spät und ich habe es dir auch gleich vorausgesagt. [128] Ich hielt es nun für das Beste, wenn du von uns fort und hinaus auf die Insel in mein Sommerschloß zögest, dort hättest du doch Ruhe und Frieden.« Die Prinzessin bedankte sich hiefür bei ihrem Vater, und so hart es ihr auch ankam, sich von ihrem Vater zu trennen, so war es doch einmal unbedingt nothwendig, denn bei dieser bösen Stiefmutter und boshaften Stiefschwester konnte sie es durchaus nicht mehr aufhalten. Und so zog sie denn mit ein paar Hofdamen hinaus auf die Insel in das Sommerschloß und ihr Vater kam zu Zeiten hie und da hinaus zu ihr und besuchte sie, und er mußte es sich auch selbst gestehen, daß sie es hier, seit sie die böse Stiefmutter bekommen, weitaus besser habe, als daheim.
So wuchs sie da draußen zu einer lieblichen Jung frau empor, rein und unschuldig, aufgeweckt und nachdenklich, lieb und gut sowohl gegen Menschen, als gegen Thiere. Aber wirklich von Herzen froh war sie niemals, sie war schwermüthig und empfand immer eine unstillbare Sehnsucht nach etwas Besserem, als sie hier auf dieser Welt gefunden. Da kam eines Tags ihr Vater zu ihr hinaus, um ihr »Lebewohl« zu sagen, weil er für längere Zeit verreisen mußte, und zwar zu einer großen Königsversammlung, zu der sich viele Könige, Fürsten, Grafen und Ritter aus vielen Reichen einfanden.
[129] Der König wollte gerne seine Tochter aufheitern, darum sagte er im Scherz zu ihr, daß er sich jetzt recht genau unter der Rittern und Königssöhnen, die alle zur Versammlung kämen, umschauen werde, ob keiner unter ihnen sei, der gut genug und würdig wäre, ihr Bräutigam zu werden, denn sie war ja jetzt ein sehr hübsches, erwachsenes Mädchen, das schon an einen Freier denken durfte. Da sagte die Prinzessin darauf: »Ich danke dir, Vater! wenn du den grünen Ritter siehst, dann kannst du ihn grüßen und ihm sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne; denn nur er und kein anderer kann mich von meinen Qualen erlösen.«
Dabei dachte die Prinzessin an den Kirchhof mit den vielen grünen Grabhügeln, denn sie sehnte sich ja nur nach dem Sterben. Aber das verstand der König nicht, er wunderte sich nur über den wunderlichen Gruß an einen fremden Ritter, dessen Namen er noch nie gehört; aber er war ja gewöhnt, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, deshalb sagte er nur, daß er nicht vergessen wolle den Gruß auszurichten, sobald er nur mit dem Ritter zusammentreffen werde. Damit nahm er zärtlich Abschied von seiner Tochter und reiste zur Königsversammlung.
Dort waren viele junge Ritter, Grafensöhne und Prinzen; aber kein einziger war darunter, den man [130] den »grünen Ritter« hieß, so daß der König den Gruß von seiner Tochter nicht ausrichten konnte. Da begab er sich endlich auf den Heimweg und er hatte eine weite Reise über hohe Berge, breite flüsse und durch dichte Wälder zu machen. Und als der König eines Tags mit seinem Gefolge durch solch' einen dichten, großen Wald ritt, kamen sie zu einem weiten, offenen Platz im Walde, auf welchem eine große Schaar von Wildschweinen in tausendfacher Anzahl herumlief, aber es waren doch keine ganz wilden Thiere, sie waren gezähmt und wurden von einem Hirten in Jägertracht bewacht, welcher, umgeben von seinen Hunden auf einem Hügel saß und eine Pfeife hatte, auf deren Ruf alle Thiere horchen und gehorchen mußten.
Der König wunderte sich über diese große Herde von gezähmten Wildschweinen und ließ den Hirten fragen, wem und zu wessen Herrschaft sie gehörte. Sie gehört dem »grünen Ritter«, antwortete der Hirt. Da spitzte der König die Ohren und es fiel ihm ein, um was ihn seine Tochter gebeten. Er ritt nun selbst zu dem Hirten hin und fragte, ob der grüne Ritter hier in der Nähe wohnte. »Nein,« antwortete er, »er wohnt weit von hier, gegen Osten. Wenn Ihr aber in dieser Richtung fort reitet, könnt Ihr [131] seine andern Hirten antreffen und die werden Euch den Weg zu ihm schon zeigen.«
Da ritt der König mit seinem Gefolge gegen Osten weiter und sie ritten drei Tage durch einen großen Wald, bis sie wieder zu einer großen, rings vom Wald umgrenzten Ebene kamen, auf der große Herden von Elenthieren und Wildochsen weideten, die von einem Hirten in Jägertracht bewacht und von ihm mit einer Pfeife gehütet und gelenkt wurden. Er saß auf einem Hügel, von seinen Hunden umgeben, und der König ritt zu ihm hin und fragte ihn, wessen Eigenthum alle diese Herden seien. »Sie gehören alle dem ›grünen Ritter‹,« erwiderte er. »Wo wohnt er denn?« fragte der König darauf. »Weiter gegen Osten,« antwortete der Hirt, »reitet nur gerade aus, so kommt Ihr hin.«
Da ritt der König mit seinem Gefolge wieder weiter gerade aus gegen Osten; und sie ritten drei Tage lang durch einen großen Wald, bis sie zu einer offenen, grünen Ebene kamen, auf welcher ungeheure Herden von Hirschen und Hindinnen, Rehen und Hasen weideten; und inmitten der Ebene saß der Hirt in Jägertracht, umgeben von seinen Hunden, auf einem Hügel und alle Thiere horchten und gehorchten dem Rufe seiner Pfeife. Zu dem ritten sie hin und fragten, wer der Herr über [132] alle diese Wälder und Thiere wäre. »Das ist der grüne Ritter,« antwortete der Hirt, »und Ihr habt nicht mehr besonders weit zu ihm, nur noch eine Tagereise durch den Wald gegen Osten.«
Da ritt der König noch einen ganzen Tag auf grünen Wegen durch lauter grüne Wälder. Dann kamen sie zu einem großen Schloß, welches auch ganz grün war, denn sowohl Mauern als Dächer waren mit Schlingpflanzen bedeckt. Als sie vor das Schloß ritten, kam gleich eine Menge von Dienern und Stallknechten daher, die alle wie Jäger vom Kopf bis zum Fuß in Grün gekleidet waren, die sie empfingen und ins Schloß geleiteten und ihrem Herrn meldeten, daß der König von dem und dem Königreiche mit seinem Gefolge da sei, um ihm einen Gruß auszurichten. Und da kam dann der Herr des Schlosses selbst, das war der grüne Ritter, ein großer und hübscher junger Mann, der ebenfalls ganz grün wie ein Jäger gekleidet war. Er hieß seine Gäste willkommen und lud sie zu seiner Tafel ein und sie wurden fürstlich bewirthet.
Da sagte der König: »Du wohnst sehr abseits und weit erstreckt sich deine Herrschaft und ich mußte einen großen Umweg machen, um den Wunsch meiner Tochter erfüllen zu können. Als ich zur Königsversammlung ritt, bat sie mich nämlich, den grünen Ritter zu grüßen [133] und ihm zu sagen, wie sehr sie sich nach ihm sehne, denn nur er und kein anderer könne sie von ihren Qualen erlösen. – Es ist dies zwar ein sehr sonderbarer Auftrag für mich gewesen,« fuhr der König fort, »aber meine Tochter ist gescheidt und gut und viel gescheidter und besser als ich; und außerdem versprach ich ihrer Mutter am Todtenbett, daß ich unserm einzigen Kinde nie eine Bitte abschlagen werde; und so erfüllte ich ihr auch diese Bitte und kam her zu dir, um mich dieses meines Auftrags zu entledigen.«
Darauf sagte der grüne Ritter: »Deine Tochter ist schwermüthig und hat gewiß nicht an mich gedacht, als sie dir den Gruß auftrug, denn von mir kann sie ja noch gar nie reden gehört haben; sie hat wohl nur an den Kirchhof mit den vielen grünen Grabhügeln gedacht und dort hofft sie allein Ruhe zu finden. – Aber vielleicht kann doch auch ich ihre Qualen lindern. Nimm dieses kleine Buch und bitte sie, wenn sie trüben Sinnes ist, in den Abendstunden ihr Fenster gegen Osten zu öffnen und in dem Buch zu lesen. Es wird ihren Sinn erleichtern.«
Und damit gab er dem König ein kleines grünes Buch; der konnte aber gar nichts darin lesen, denn er kannte die Buchstaben, mit denen es geschrieben war, nicht; aber er nahm es zu sich und dankte dem grünen [134] Ritter für die Güte und die gastfreundliche Aufnahme. Es that ihm sehr leid, daß er sowohl sich, als dem grünen Ritter so viele Ungelegenheiten bereitet, da die Prinzessin diesen gar nicht gemeint hatte.
Sie mußten hier über Nacht bleiben und der grüne Ritter hätte sie noch länger behalten, aber der König sagte ihm am nächsten Morgen »Lebewohl!« und ritt mit seinem Gefolge denselben Weg, den er gekommen: sieben geschlagene Tage durch des Ritters grüne Wälder, bis sie wieder miteinander zu seiner Wildschweinherde kamen und von da aus zogen sie geradenwegs heim.
Gleich das erste mal, als der König wieder auf die Insel hinausfuhr, brachte er der Prinzessin das kleine grüne Buch mit und sie war sehr verwundert darüber, als ihr der Vater von dem grünen Ritter erzählte, und ihr seine Grüße und das Buch brachte, denn sie hatte ja nicht im geringsten an einen wirklichen, lebendigen Ritter gedacht. Aber noch am selben Abend, als ihr Vater fort war, öffnete sie ihr gegen Osten gelegenes Fenster, schlug das Buch auf und begann darin zu lesen. Sie kannte sowohl die Buchstaben, als auch die Sprache, wiewohl es nicht ihre Muttersprache war; sie fing also zu lesen an: es waren lauter Gedichte und das erste in dem Buch begann folgendermaßen:
[135] »Der Wind hat sich am Meer erhoben,
Und saust durch alle Wälder droben,
Indes die Welt rings schlafumwoben;
– Wer will dem Ritter sich verloben?«
Als sie die erste Zeile las, hörte sie deutlich, wie der Wind über das Wasser hinbrauste und bei der zweiten rauschte es in allen Bäumen, dessen Kronen von dem Lufthauch hin- und herbewegt wurden, bei der dritten nickten ihre Hofdamen und schliefen zugleicherzeit ein, und alles in und außer dem Schlosse fiel in einen tiefen Schlummer. Und als sie die vierte Zeile las, kam der grüne Ritter selbst als Vogel durchs Fenster zu ihr geflogen.
Darauf nahm er seine menschliche Gestalt an, grüßte sie freundlich und bat sie, nicht vor ihm zu erschrecken. Er sei der grüne Ritter, welchen der König besucht und von dem er das Buch bekommen hätte; und sie selbst habe ihn mit dem Lesen herbeigerufen. Sie könne frei über alles, was ihr Herz bedrücke, mit ihm sprechen und dies würde ihr auch das Gemüth erleichtern, sagte er. Und die Prinzessin fühlte gleich ein so großes Zutrauen zu ihm, daß sie sich ihm gegenüber setzte und ihr Herz ausschüttete; und er redete ihr so milde und so klar und verständnißinnig zu, daß sie sich dabei unendlich wohl und glücklich fühlte, wie noch nie zuvor.
[136] Dann sagte der grüne Ritter zu ihr, daß es jedesmal, so oft sie das Buch aufschlagen und jene Verse lesen werde, gerade wie am heutigen Abend gehen würde: nämlich, daß alle Menschen auf der Insel, die Prinzessin ausgenommen, in tiefen Schlaf fallen müßten, dann käme er sogleich zu ihr, wiewohl er gar weit entfernt von ihr wohnte. Und dann sagte er ihr auch noch, daß er immer sehr gerne zu ihr kommen wollte, wenn sie ihn nur zu sehen wünschte. Jetzt aber möge sie das Buch wieder zumachen und sich für heute zur Ruhe begeben.
Und im selben Augenblick als sie das Buch schloß, war der grüne Ritter verschwunden und dann erwachten ihre Hofdamen und alle Menschen in und außer dem Schlosse wieder. Darauf ging sie ins Bett und träumte von dem Ritter und von allem, was er zu ihr gesagt hatte. Als sie am folgenden Morgen aufwachte, war ihr sehr leicht ums Herz und sie war so froh, wie sie noch niemand vorher gesehen, und jetzt ging es von Tag zu Tag besser mit ihr. Sie bekam rothe Wangen, welche sie auch früher nie gehabt hatte; und sie lachte und scherzte so, daß sich alle über diese Veränderung, die mit ihr vorgegangen, wundern mußten.
Der König sagte, daß ihr nach des grünen Ritters Rath die Abendluft und das kleine Buch wirklich [137] recht gut gethan hätten; und sie sagte dasselbe. Was aber niemand wußte, das war das, daß die Prinzessin jeden Abend, sobald sie in ihrem Buch las, Besuch von dem grünen Ritter bekam und dann gar viel mit ihm plauderte. Als er das dritte mal bei ihr war, gab er ihr einen goldenen Ring und verlobte sich mit ihr. Aber erst wenn drei Monate verflossen wären, sagte er, könne er zu ihrem Vater gehen und um ihre Hand anhalten und dann werde er sie auch sogleich als seine liebe Frau heimführen.
Inzwischen erfuhr auch der Prinzessin Stiefmutter, wie sie draußen auf der Insel gedieh und herrlich aufgeblüht sei und daß sie jetzt so gesund und froh wäre, wie niemals zuvor. Darüber wunderte sich die Stiefmutter, noch mehr aber ärgerte sie sich, denn sie hatte ja immer geglaubt, daß die Prinzessin an der Auszehrung leide, und daher wartete sie nur darauf, daß diese recht bald sterben sollte, damit ihre eigene Tochter Prinzessin und Erbin des Reiches werden könnte. Dann, glaubte sie, würde sich schon ein König oder ein Prinz finden, welcher sie heiraten möchte.
Sie schickte nun eines Tages ihr Kammerfräulein auf die Insel hinüber, um der Prinzessin einen Besuch abzustatten, denn sie sollte schauen, daß sie es herausbekomme und ausspioniren, was der Grund dieser[138] merkwürdigen Veränderung sei. Am nächsten Tag kam das Kammerfräulein zurück und meldete der Königin, daß der Prinzessin das so gesund sein solle, daß sie sich allabendlich an das offene Fenster setze und in einem Buch lese, welches sie von einem fremden Prinzen zum Geschenk bekommen habe. Sie selbst sei aber von der Abendluft schläfrig geworden und in einen tiefen Schlaf gefallen, und so ginge es jeden Abend auch den Hofdamen, welche sagten, daß sie davon rein noch die Gicht bekommen müßten, während die Prinzessin immer frischer, fröhlicher und blühender werde, als sie je gewesen. Da schickte die Königin am andern Tag ihre Tochter hinüber. »Passe auf alles, besonders aber auf die Prinzessin gut auf«, sagte die Königin. »Mit dem Fenster muß es ganz bestimmt eine eigene Bewandtniß haben. Man sollte doch nicht glauben, daß da eine Mannsperson hineinkommt.« Die Tochter kam am darauffolgenden Tag wieder zurück und konnte auch nichts anderes erzählen, als das Kammerfräulein, denn sie war ebenfalls in Schlaf gefallen, als sich die Prinzessin ans Fenster setzte und zu lesen anfing.
Da mußte die Stiefmutter am dritten Tag selbst hinüber, um bei der Prinzessin nachzuschauen. Und dort sprach sie so zuckersüß mit ihr, welche Freude sie[139] darüber empfinde, sie so froh und munter zu sehen. Und sie fragte sie aus, so gut sie nur konnte, aber es war nichts aus ihr herauszubekommen. Dann ging sie zu dem nach Osten liegenden Fenster hin, an welchem die Prinzessin abends zu sitzen und zu lesen pflegte und schaute es von außen an und schaute es auch von innen an, aber sie konnte durchaus nichts besonderes daran finden oder entdecken. Es lag sehr hoch über der Erde, aber es wuchsen grüne Schlingflanzen bis hinauf, so daß doch vielleicht jemand ans Fenster kommen konnte. Daher nahm die Königin eine kleine Scheere, bestrich diese mit einem scharfen Gift, das sie bei sich trug und befestigte die Scheere dann im Fensterrahmen, die Spitzen nach oben gerichtet, aber so, daß es niemand sah und auch niemand sehen konnte. Als es nun Abend wurde und die Prinzessin sich ans Fenster setzte, das kleine grüne Buch in die Hand nahm und aufschlug, sagte die Königin wohl zu sich, daß sie sich jetzt recht zusammen nehmen wollte, um ja nicht wie die andern einzuschlafen, aber es half ihr nicht im geringsten. Als die Prinzessin das Gedicht in fremder Sprache las, da fielen der Königin die Augendeckel zu und sie schlief wie ein Stein und mit ihr die Hofdamen und alle, die in und außer dem Schlosse sich befanden.
[140] Und im gleichen Augenblick kam der grüne Ritter in seiner Vogelgestalt zum Fenster herein, ungesehen und ungehört von allen, ausgenommen von der Prinzessin. Sie sprachen zusammen davon, daß jetzt nur noch eine Woche zu den drei Monaten fehle und daß er dann am hellichten Tage an ihres Vater Hof gehen und um sie freien werde. Dann wolle er sie heimführen und sie würde allzeit bei ihm sein in dem grünen Schloß, das mitten in dem großen Waldreich, über das er herrschte, lag und von dem er ihr früher schon so viel erzählt hatte. Es war zwar weit, weit entfernt von hier, aber er flog als Vogel doch den ganzen Weg jeden Abend hieher und wieder zurück, denn er flog so schnell, daß er fast gar keine Zeit dazu verbrauchte.
Dann nahm der grüne Ritter wieder zärtlichst Abschied von seiner Braut, nahm seine Vogelgestalt an und flog zum Fenster hinaus. Aber er flog so niedrig durch dasselbe, daß er an die Scheere, die die Königin im Fensterrahmen befestigt hatte, anstreifte und sich das eine Bein daran ritzte. Er stieß einen Schrei aus, war aber im selben Augenblick auch schon verschwunden. Die Prinzessin, die ihn gehört hatte, sprang auf, dabei fiel ihr das Buch aus der Hand, auf den Boden und schloß sich zufällig und sie stieß ebenfalls einen [141] gellenden Schrei aus, der die Königin und alle Hofdamen aufweckte. Die umringten sie alle und fragten sie, was ihr geschehen sei. Sie antwortete, es sei nichts gewesen, sie wäre nur vielleicht ein wenig eingeschlummert und von einem schweren Traum erschreckt worden. Aber sie wurde von der Stunde an krank und fieberte, so daß sie sogleich zu Bett gebracht werden mußte. Die Königin schlich sich sogleich zum Fenster, um ihr Scheerchen wegzunehmen, sie sah, daß Blut daran klebte, steckte es dann in die dazu gehörige kleine Scheide, verbarg es unter ihrer Schürze und nahm es mit sich nach Hause.
Die Prinzessin konnte aber in der Nacht nicht schlafen und war auch am nächsten Tag noch ganz elend, aber gegen Abend stand sie doch auf, um, wie sie sagte, frische Luft zu schöpfen. Und so setzte sie sich an das offene, ostwärts gelegene Fenster und schlug das Buch auf und las wie gewöhnlich:
»Der Wind hat sich am Meer erhoben,
Und saust durch alle Wälder droben,
Indes die Welt rings schlafumwoben;
– Wer will dem Ritter sich verloben?«
Und der Wind brauste und die Bäume rauschten und bewegten sich und alles mußte einschlafen, sie selbst ausgenommen, – aber es kam kein Ritter.
[142] So ging es dann einen Tag wie den andern. So sehr sie auch wartete und sich sehnte und so viel sie las und sang – es kam kein grüner Ritter. Da wurden ihre rothen Wangen wieder bleich und ihr froher Sinn wurde wieder trübe; und sie siechte hin, zum Schmerze ihres Vaters, aber zur heimlichen Freude ihrer bösen Stiefmutter.
Eines Tags wankte die Prinzessin allein durch den Schloßgarten auf der Insel und setzte sich auf eine Bank unter einem hohen Baum und da blieb sie lange in traurigen und trüben Gedanken sitzen; und währenddem kam zuerst ein Rabe und dann noch einer geflogen. Beide setzten sich auf einen Baumast über dem Haupte der Prinzessin und schwätzten miteinander; und diese verstand alles, was sie miteinander sprachen. Der eine sagte: »Es ist doch wirklich ein Jammer, so mitansehen zu müssen, wie unsere Prinzessin hier herumgeht und sich um ihren Liebsten zu Tode grämt.« – »Ja,« erwiderte der andere, »und sie wäre doch die einzige, die ihm, der von der Scheere der Königin vergiftet, krank liegt, helfen könnte.« – »Wie denn?« fragte der erste. – »Ja,« antwortete der Gefragte, »Gift muß gegen Gift helfen! und drüben im Hofe des Königs, westlich von der Scheune liegt in einer Grube unter einem Stein eine Natter mit neun Jungen. [143] Könnte die Prinzessin diese bekommen und sie dann ihrem Liebsten drei Tage hintereinander in sein Essen kochen, und zwar jeden Tag drei Junge, dann könnte er wieder genesen. Aber sonst giebt es keinen Rath mehr für ihn.«
Sobald die Nacht kam, schlich sich die Prinzessin zum Schlosse hinaus und zum Strand hinunter. Dort fand sie ein kleines Boot und ruderte in demselben an den Königshof hinüber. Sie fand auch den Stein in der Grube und wälzte ihn hinweg, so schwer er auch war, und fing die neun jungen Nattern glücklich zusammen, die darunter lagen, band sie in ihre Schürze und wanderte fort auf dem Weg, den, wie sie wußte, ihr Vater gezogen, als er von der Königsversammlung kam.
So wanderte sie zu Fuße Wochen und Monate lang, über hohe Berge und durch dichte Wälder und endlich kam sie zu demselben Schweinehirten in Jägertracht, den ihr Vater damals getroffen. Er wußte, wie schwer krank sein Herr, der grüne Ritter, in seinem Heim darniederlag und zeigte ihr den Weg ostwärts durch den tiefen Wald bis zu dem zweiten Hirten, und von dem kam sie zu dem dritten, und dann endlich zu dem grünen Schloß, in dem der Ritter wohnte und krank lag von dem Gifte, das er im Blute hatte, so [144] daß er niemanden kannte und mit niemandem sprach und sich nur in Angst und Schmerzen im Bette wälzte. Man hatte zwar aus allen Weltenden Aerzte zu ihm gerufen, aber keiner konnte ihm auch nur die geringste Linderung verschaffen.
Die Prinzessin ging in die Küche und fragte, ob sie hier nicht in Dienst treten könnte; sie wollte abspülen und bei allem mithelfen und den andern an die Hand gehen, überhaupt alles, was man von ihr verlangte, thun, wenn sie nur die Erlaubniß bekäme, dableiben zu dürfen. Das erlaubte ihr der Koch; und weil sie gar so anstellig, flink und willig zu jeder Arbeit war, konnte sie der Koch bald recht gut leiden. Ja, er hatte sogar schon ein wenig ein Auge auf sie geworfen, deshalb gewährte er ihr gerne, wenn sie ihn um etwas bat.
Da sagte sie eines Tags zum Koch: »Heute mußt du die Suppe für den kranken Herrn von mir zubereiten lassen. Ich weiß ganz gut, wie sie gekocht werden muß; aber ich will allein kochen dürfen und niemand darf mir in den Topf gucken.« Er erlaubte ihr es und so kochte sie denn drei von den jungen Nattern in die Suppe hinein, die zu dem grünen Ritter hinaufgebracht wurde. Und als er diese Suppe gegessen hatte, legte sich das Fieber so weit, daß er [145] doch seine Leute wieder erkannte und vernünftig sprechen konnte; da ließ er den Koch zu sich rufen und sagte, daß ihm die heutige Suppe so gut gethan; ob er sie gekocht habe? »Ja,« antwortete der Koch, denn es dürfe niemand andres als er selbst die Speisen für den Herrn zubereiten. Da bat ihn der grüne Ritter, ja dafür zu sorgen, daß er morgen von derselben Suppe bekomme.
Nun mußte der Koch selbst die Prinzessin bitten, am nächsten Tag die Suppe für den Herrn zu bereiten; und sie kochte dann abermals drei junge Nattern hinein; davon wurde der grüne Ritter so wohl, daß er wieder von seinem Bett aufstehen konnte. Und alle Aerzte wunderten sich und konnten durchaus nicht begreifen, wie das zuging; aber sie sagten, daß jetzt endlich die Mittel, die sie ihm seit einem Monat eingegeben, wirkten; und sie glaubten ganz gewiß, daß ihr Patient jetzt doch noch davon komme.
Am dritten Tage mußte das Küchenmädchen wieder die Suppe bereiten und sie kochte die drei letzten jungen Nattern hinein. Und sobald sie der Kranke gespeist hatte, fühlte er sich vollkommen frisch und gesund. Er sprang auf und ging munter umher und wollte nun selbst in die Küche gehen, um dem Koch zu danken: denn der sei doch sein bester Doctor gewesen, sagte er.
[146] Als er in die Küche hinunter kam, war der Koch gerade nicht da, er fand nur ein Mägdlein, welches am Herd stand und abspülte. Aber er erkannte dieses Mägdlein sogleich und nun ging ihm auch ein Licht auf, wie das Ganze zusammenhing. Und er schloß sie in seine Arme und sagte: »Du bist es also gewesen, die mir das Leben gerettet und mich von dem Gift geheilt hat, das mir ins Blut drang, als ich mich bei meinem letzten Besuch bei dir an deinem Fensterrahmen ritzte.« Sie konnte es ja nicht leugnen und war nun überglücklich und er war es auch. Sie hielten dann ihre Hochzeit auf dem grünen Schloß und da leben sie wahrscheinlich noch miteinander und herrschen über alle grünen Wälder.
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