32. Warum die Bäume nicht mehr reden.

Estnisches Märchen.


Vor alters konnten die Bäume reden. Jetzt haben sie zwar auch eine Seele, was man daran erkennt, daß sie wachsen, Blüten und Früchte bringen, wozu ein abgehauener Baum nicht mehr imstande ist; die Sprache aber ist ihnen genommen. Und das ist so zugegangen:

Ein Bauer ging in den Wald, um Holz zu hauen. Der erste Baum, den er abhieb, war eine Tanne, aber aus ihrem Innern scholl ihm eine Stimme entgegen: ›Haue mich nicht! Siehst du nicht, wie zähe Tränen aus meinem Fleische hervordringen? Es würde dir übel gehen, wenn du mir das Leben nähmest.‹ – Der Bauer wandte sich zu einem Fichtenbaume und hob seine Axt gegen ihn auf. Die Seele des Baumes aber rief ihm zu: ›Haue mich nicht um! Du würdest wenig Nutzen von mir haben, denn mein Holz ist gewunden und ästig.‹ Unwillig wandte sich der Bauer zu einem dritten Baume, der Erle, und begann sie umzuhauen. Der Baumgeist aber schrie: ›Hüte dich, mich zu verletzen! Bei jedem Hiebe dringt Blut von meinem Herzen heraus und färbt mein Holz und deine Axt blutig.‹ Betrübt gab der Bauer seine Versuche auf und schickte sich an, nach Hause zu gehen. Als er aus dem Walde heraustrat, begegnete [46] ihm der Herr Jesus und fragte, weshalb er so mißmutig aussehe. Er erzählte sein Mißgeschick. Da antwortete ihm der Herr: ›Kehre nur wieder um und haue ab, was du willst; denn von jetzt an werde ich den Bäumen verbieten, zu reden und den Menschen zu widersprechen.‹ Es geschah, und seit der Zeit wagt es kein Baum, gegen die Axt des Menschen die Stimme zu erheben. Doch hört man es im Walde noch sanft rauschen und die Blätter sich bewegen, wenn die Bäume leise miteinander flüstern.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Naturgeschichtliche Märchen. 7. Aufl. Leipzig/Berlin: 1925, S. 25-26,46-47.
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