IX. Der Seedraug.

[9] Der Seedraug [sjódreygur, sjódreygil] wird nach Sonnenuntergang auf den Aussenschären stehen gesehen. Wenn Leute ausrudern, ruft er sie an und bittet sie um Erlaubnis, in das Boot zu kommen; sie haben ihn bisweilen aufgenommen und auf eine Bank gesetzt, damit er mit den Männern rudere. Solange es tiefe Nacht ist, rudert er mindestens gleich zweien: so stark ist er. Er versteht es gut auf die Fischbank zu treffen, wenn es [auch] nicht licht [genug] ist, die Marken [am Ufer] zu erkennen. Aber wenn es gegen den Tag geht, nimmt er ab, und wenn die Sonne aus dem Meere aufsteigt, schwindet er zu nichts. Sie haben ein Kreuz über ihn geschlagen, aber wie es sich mehr und mehr im Osten von der Sonne gerötet hat, hat er immer kläglicher gebeten und die Männer angefleht, ihn loszulassen. Einmal wollten sie ihn nicht loslassen, aber als die Sonne aufgegangen war, verschwand er, und da lag ein Kreuzbein auf der Bank; denn man sagt, dass sich der Seedraug das Kreuzbein von den Menschen angeschafft hat, und darum bleibt das Kreuzbein zurück, wenn der Draug selbst verschwindet. Solche Wechselgestalten hat er: einmal scheint er einem Manne gleich, einmal einem Hunde; er ist braun von Farbe; er brüllt und heult, so dass man das weithin hören kann; er haucht Feuer aus, wenn er auf dem Lande ist; er hat nicht mehr als einen Fuss (Fischschwanz), aber kann auf ihm weit hüpfen; die Spuren sind nach ihm im Schnee gesehen worden. Wenn er einem Menschen auf dem Lande begegnet, versucht er ihn in die See zu stossen.

Quelle:
Jiriczek, Otto L.: Færöerische Märchen und Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1892) 1-24, 142-165, Berlin: A. Asher & Co, S. 9.
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