[10] Lippo, der flinke Mann, der Jäger, begab sich eines Tages mit zwei Gefährten auf die Rennthierjagd. Einen ganzen Tag wanderten sie im Walde umher, da brach die Nacht herein, und sie suchten in einer Reisighütte Schutz gegen die Finsterniss und die Kälte. Sie brachten die Nacht in der Hütte zu, und als der Tag zu dämmern begann, glitten die drei Männer auf ihren Schneeschuhen weiter; bevor sie die Hütte verliessen, schlug Lippo seine Schneeschuhe aneinander und sagte: »Heute muss mir der Tag Beute bringen; ein Stück dem einen Schneeschuh, ein Stück dem andern, ein drittes meinem Stabe.« Die Männer hatten sich kaum in Bewegung gesetzt, als sie auch drei Rennthierspuren fanden; sie folgten ihnen und erblickten bald die drei Rennthiere: zwei nebeneinander, das dritte etwas weiter ab von den andern. Da sagte Lippo zu den Gefährten: »Ihr mögt die beiden Thiere verfolgen, das sei eure Beute; ich will dem einzelnen nachjagen.« Mit diesen Worten glitt er auf dem Schnee dahin, den ganzen Tag, bis ihn die Nacht überraschte; aber das Rennthier holte er nicht ein, obgleich er der schnellste Schneeschuhläufer war.[10] Da kam er im Walde an ein Gehöft; das Rennthier flüchtete sich in den Stall auf dem Hofe und Lippo eilte ihm nach. Auf dem Hofe stand der Herr des Hauses, ein ehrwürdiger Greis, Haupt und Kinn mit grauem Tannenmoos bewachsen. »Oho!« sagte er, »welcher Krötensohn hat meinen Hengst heute in Schweiss gejagt?« – Lippo trat vor, begrüsste den Greis und sagte: »Ich habe es gethan, konnte ihn aber nicht einfangen, und bin so in diesen Hof gerathen.« – Der Greis, welcher Tapio selber war, sagte darauf: »Nun, wenn du bis zum Abenddunkel meinen Hengst gejagt hast, so magst du zur Nacht in meiner Stube bleiben.« Lippo trat in die Stube des Tapio ein und schaute sich darin verwundert um: hier waren Rennthiere und Hirsche, dort Bären, Füchse, Wölfe und alle nur erdenklichen Thiere des Waldes. Tapio setzte ihm ein Abendessen vor und bewirthete ihn gut. Am folgenden Morgen wollte Lippo seine Fahrt fortsetzen, aber er konnte seine Schneeschuhe nicht finden. Er fragte den Tapio danach, doch dieser sagte: »Willst du nicht als Schwiegersohn bei mir bleiben? Ich habe eine einzige Tochter.« Lippo antwortete: »Gern bliebe ich, aber ich bin ein ganz armer Mann.« – »Das lass meine Sorge sein!« rief Tapio, »Armuth ist kein Fehler, und bei uns sollst du haben, wonach dein Sinn gelüstet.« Er gab dem Lippo seine Tochter, und der flinke Schneeschuhläufer und Jäger blieb als Schwiegersohn in der Waldhütte des Tapio.
Drei Jahre waren vergangen, seitdem er zu Tapio gekommen, da gebar ihm Tapio's Tochter einen Sohn. Nun gedachte Lippo seine Heimat zu besuchen und bat Tapio, ihn dorthin zu führen. Tapio sagte: »Wenn du mir Schneeschuhe nach meinem Sinn verfertigst, lasse ich dich ziehen.« Lippo eilte in den Wald und begann Schneeschuhe zu schnitzen. Ueber ihm sass eine Meise auf einem Baumzweige und sang:
[11]
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
Lippo warf ein Holzstückchen nach dem Vogel und sagte: »Was pfeifst du da, du dummes Thierchen?« Er machte seine Schneeschuhe fertig, verzierte sie so schön er's verstand und brachte sie dem Tapio. Tapio versuchte sie, sagte aber alsbald: »Diese Schneeschuhe sind nichts für mich!« – Am folgenden Tage musste Lippo aufs neue hinaus in den Wald an die Arbeit. Wieder sass die Meise da und sang:
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
»Bist du schon wieder da mit deinem Geschwätz?« rief Lippo zornig und warf ein Holzstückchen nach dem Vögelchen. Er dachte nicht daran, den Rath der Meise zu befolgen, sondern schnitzte die Schneeschuhe nach alter Art und brachte sie dem Tapio. »Das sind nicht meine Schneeschuhe«, sagte Tapio wieder. Nun, als Lippo am dritten Tage in den Wald ging und die Meise wieder ihr Liedlein sang:
»Tii, tii, ich kleine Meise
Lehre dich die rechte Weise:
Nach unten thu ein Zweiglein spitz,
Ans Ende vorn des Fusses Sitz!«
da dachte Lippo: »Gut, ich thue wie du mich heissest; umsonst wirst du wohl nicht singen.« Er nahm einen recht ästigen Zweig und befestigte ihn an der schmalen Rinne unter dem Schneeschuh, und an dem oberen Ende desselben brachte er den Fussriemen an; dann zeigte er dem Tapio die Schneeschuhe. »Siehe, das sind ja meine Schneeschuhe«, sagte Tapio, als er sie versuchte. »Jetzt[12] darfst du heimwärts ziehen.« Er gab Lippo das Geleite und sagte: »Ich will vor euch hingleiten, und ihr sollt meinen Spuren folgen; wo ihr einen Abdruck meiner Stabspitze findet, da sollt ihr zur Nacht bleiben; aber baue deine Schlafhütte recht dicht aus Tannenzweigen, dass nicht des Himmels Gestirne durchzuscheinen vermögen.« Mit diesen Worten glitt Tapio vor ihnen dahin; die Zweige unter seinen Schneeschuhen bezeichneten seine Spur, sodass Lippo mit Weib und Kind ihr folgen konnte. Erst gegen Abend sahen sie den Abdruck des Stabes, und daneben einen gebratenen Hirsch zum Abendessen. Sie bauten sich eine dichte Hütte aus Tannenzweigen, bedeckten sie mit einem sehr festen Dach und zogen den kleinen Schlitten mit dem Kinde hinein; dann legten sie sich zur Ruhe. Am andern Morgen setzten sie die Fahrt fort und nahmen ein Stück von dem Hirschbraten mit auf den Weg. Gegen Abend fanden sie wieder die Spur des Stabes und ein gebratenes Rennthier daneben. Wieder bauten sie eine sehr dichte Hütte aus Tannenzweigen und zogen den Schlitten mit dem Kinde hinein. Nachdem sie die Nacht geruht, ging es am Morgen weiter, bis sie am Abend den dritten Abdruck des Stabes fanden; diesmal lag ein gebratener Auerhahn zum Abendessen da. »Siehe da! Nun kann die Heimat nicht mehr fern sein, da man uns nur einen Auerhahn bietet!« rief Lippo aus. Die Hütte bauten sie nur ganz durchsichtig und zogen den Schlitten mit dem Kinde hinein, dann legten sie sich zur Ruhe nieder. In der Nacht verzogen sich die Wolken, und die Sterne am Himmel schauten hell durch das Reisig auf die Schläfer herab, da die Hütte so wenig dicht gebaut war. Als Lippo am Morgen erwachte, war sein Weib nirgends zu finden; er trat hinaus vor die Hütte, schaute umher, aber die Spur von Tapio's Schneeschuhen war nicht mehr zu sehen. Lippo wusste nicht wo aus, wo ein, da er keine Spur fand;[13] er setzte sich mit seinem Kinde vor die Thür seiner Hütte und schaute vor sich hin; da lief ein Hirsch an ihnen vorüber und blökte. Sonst war weit und breit nichts zu sehen, der Abend brach herein, und Lippo blieb nichts übrig als dort die Nacht zuzubringen. Am Morgen lag wieder ein gebratener Auerhahn vor der Thür, und der Hirsch lief blökend vorüber. – Viele Jahre verbrachte Lippo mit seinem Kinde in derselben Hütte aus Tannenzweigen; jeden Morgen lag für sie ein gebratener Auerhahn vor der Thür, und jeden Tag lief ihnen der Hirsch vorüber. Der Knabe wuchs heran zu einem klugen, verständigen Jüngling; er bat einst den Vater, ihm ein langes Rohr zu verfertigen, damit sie hinausschauen könnten, ob die Heimat noch fern sei. In seinen Mussestunden machte Lippo das Rohr und gab es seinem Sohne. Dieser schaute aus und rief alsbald: »Die Heimat ist ja nicht mehr fern, wir sind dicht am eignen Feldgrund!« Und richtig, als die Beiden hinausgingen, waren sie alsbald in der Heimat. Der Jüngling aber ward der Stammvater der Lappen. Damit ist die Geschichte aus.
Buchempfehlung
»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge
276 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro