9.
Der Wolf als Grenzwächter.
(Aus Tawastland.)

[232] Es zogen einmal einige Wandersleute die Heerstrasse entlang und verloren dabei ein Stück geräucherten Schweinefleisches. Bald nach ihnen kam ein Wolf desselben Weges und packte das Stück Fleisch mit den Zähnen; aber als er[232] merkte, dass es salzig sei, spie er es aus und sagte: »Mein Gaumen trachtet nach frischem!« Da erblickte er am Ufer des Flusses eine Sau mit ihren Ferkeln und sprang hinzu, um sie zu würgen. Die Sau legte sich aufs Bitten und sagte: »Friss uns nicht, bis ich meine Kinder getauft habe.« – »Nun gut, taufe sie erst«, sagte der Wolf, auf ihre Bitte eingehend. Da ging die Sau mit ihren Ferkeln in den Fluss; aber von Wiederkehr war keine Rede mehr, sie schwammen hinüber an das andere Ufer. Der Wolf, dem schon der Mund wässerte, hatte nur das Nachsehen und konnte der Sau nichts anthun.

Darauf ging der Wolf in den Wald und traf dort einen Bock. Diesen packte er an und rief: »Jetzt wirst du von allem Jammer und aller Trübsal dieser Erde erlöst, denn ich will dich fressen.« – »Warte nur ein wenig, bis ich dieses Feld ausgemessen habe«, sagte der Bock; »dann magst du mich fressen, wenn dein Sinn danach steht.« – Der Wolf war es zufrieden; aber der Bock besann sich nicht lange, sondern suchte in dem nahen Dorfe Schutz.

Der Wolf war ganz erbost, dass ihm auch der Bock entgangen war, und ging aus, um neue Beute zu suchen. Bald fand er eine Stute mit ihrem Fohlen und rief ihr zu: »Ich will dein Fohlen fressen, du hast ja doch nur Beschwerde davon. Uebrigens hast du keine Erlaubniss in dieser Gegend zu spazieren.« »O, ich habe von meinem Herrn einen Erlaubnissschein erhalten, friss uns nicht, bevor ich dir diesen gezeigt habe«, antwortete die Stute, drehte sich plötzlich um und schlug mit solcher Gewalt aus, dass der Wolf mit zerschmettertem Unterkiefer auf den Rücken flog. Sie selbst suchte mit ihrem Fohlen das Weite.

»Ach! Thor, der ich war!« schrie der Wolf in seinen Schmerzen. »Ich bin ja kein Pfarrer; warum liess ich's zu, dass die Sau ihre Ferkel taufte? Ich bin ja auch kein Landmesser, dass ich das Feld durch den Bock ausmessen[233] lassen sollte! Bin ich doch auch kein Grenzwächter, dass ich mir den Erlaubnissschein der Stute ansehen sollte!« So lang ist's.

Quelle:
Schreck, Emmy: Finnische Märchen. Weimar: Hermann Böhlau, 1887, S. 232-234.
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