Die vorliegende Uebersetzung finnischer Märchen ist durch mich veranlasst worden, und darum habe ich mich der Aufgabe nicht entziehen wollen, sie beim Publicum mit einigen wenigen Worten einzuführen, die es allerdings nur doppelt schmerzlich werden empfinden lassen, dass nicht ein Besserer, wie sonst so häufig, auch in dieser Sache das Wort ergriffen hat.
Vor etwa zwei Jahren, wo ich mehr als heut in Mussestunden folkloristische Thätigkeit pflegen konnte, hatte sich mir im Verlaufe einer Arbeit die Wahrnehmung aufgedrängt, dass für eine vergleichende Behandlung des Schatzes an Thiermärchen bei den verschiedenen Völkern unsere Quellen, selbst für europäische Völker, noch bei weitem nicht reichlich genug fliessen. Bei meinen Bemühungen, diese Lücken nach Möglichkeit zu ergänzen, erfuhr ich durch einen sich dafür lebhaft interessirenden Freund, dass seine Schwägerin, Frau Schreck in Leipzig, eine geborene Finnländerin, gelegentlich eine Uebersetzung finnischer Thiermärchen angefertigt habe. Meine Bitte, mir das Manuscript dieser Märchen zu überlassen, erfüllte die Uebersetzerin aufs freundlichste, im weiteren Verlaufe des sich daran knüpfenden, für mich an Genuss und Anregung überaus[5] reichen Briefwechsels machte ich ihr den Vorschlag, eine grössere Auswahl finnischer Märchen zu übersetzen, und das Ergebniss davon liegt in dieser Sammlung vor, welche dank dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn Böhlau in Weimar das Licht der Welt erblickt hat.
Ich habe mich selbst gelegentlich gegen das Zuviel ausgesprochen, das mir in der über uns hereinbrechenden Fluth von Märchensammmlungen hervor zu treten scheint und das die Verleger sowohl als das Publicum misstrauisch gegen jeden neuen derartigen Versuch machen muss. Ich habe darauf hingewiesen, dass es nun wol an der Zeit sei, die Untersuchungen wieder einmal im Zusammenhange aufzunehmen, für welche Benfey die für alle Zeit giltigen Grundlagen in seiner Einleitung zum Pantschatantra geschaffen hat. Mit jener Bemerkung sind aber selbstverständlich nur jene Sammlungen gemeint, welche, immer wieder dieselben Gegenden ausbeutend, nichts als Varianten von längst Bekanntem bringen. Eine Uebersetzung finnischer Märchen ist von vornherein davon ausgenommen, da sie dem allergrössten Theile der in Europa für Folklore sich Interessirenden neues Material zugänglich macht. Denn die finnische Sprache wird, trotz ihres hohen Wohlklanges und ihrer grossen Wichtigkeit für linguistische Studien, doch wol für immer darauf verzichten müssen von einer grösseren Anzahl Nicht-Finnen verstanden zu werden. Dass aber der finnische Märchenschatz schon wegen seiner Beziehungen zu benachbarter germanischer und slavischer Volksdichtung eine hohe Bedeutung beanspruchen darf, liegt ohne weiteres auf der Hand.
Märchen der den Finnen am nächsten verwandten Ehsten und Lappen sind bereits, wenn auch zum Theil erst in jüngster Zeit, durch deutsche Uebersetzungen allgemein zugänglich gemacht. Die von Friedrich Kreutzwald gesammelten ehstnischen Märchen übersetzte im Jahre 1869 F. Löwe;[6] erst 1881 konnte die zweite Hälfte dieser Uebersetzung veröffentlicht werden.1 Und eine Uebersetzung lappischer Märchen ist gar erst in diesem Jahre dem deutschen Publicum dargeboten worden.2 Diesen beiden Werken reiht sich zunächst das vorliegende an, die erste Sammlung finnischer Märchen in deutschem Gewande.
Das kleine Finnland beschämt manches grosse Kulturvolk in Bezug auf die frühzeitig begonnene und systematisch durchgeführte Sammlung und Ausbeutung seiner volksthümlichen Ueberlieferungen. Das Interesse für finnische Volkspoesie ist ungefähr ebenso alt wie die finnische Landesuniversität Åbo (seit 1828 in Helsingfors), die im Jahre 1640 von der Königin Christine gegründet wurde. Indessen wurden während des siebzehnten Jahrhunderts, so viel man weiss, nur Sprichwörter gesammelt, von denen ein kleines Heft 1702 erschien. Seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts findet man in Dissertationen öfters Fragmente von Zauberliedern erwähnt, ein Beweis dafür, dass man auch mit dem Sammeln dieser Erzeugnisse des Volksgeistes sich bereits beschäftigte. Eine grössere Anzahl von Zauberliedern, zusammen mit epischen und lyrischen Stücken, liess gegen das Ende des Jahrhunderts der hochgefeierte finnische Professor Porthan durch seine Schüler und Freunde sammeln. Gedruckt wurden indess nur Auszüge in den um jene Zeit verfassten Mythologien von Lencquist (1782) und Ganander[7] (1789). Eine kleine Sammlung finnischer Volksräthsel, meistens in poetischer Form, erschien 1783.3
Bei dem vielseitigen Interesse Goethe's an volksthümlicher Dichtung darf es nicht wundern, dass wir bei ihm auch die Uebersetzung eines finnischen Liebesliedes finden, das er, wie Düntzer nachgewiesen hat, einem französischen Reisewerke entnommen hat.4 Im Kanteletar findet sich, so weit ich sehe, das Original nicht. Herder's Volkslieder, welche Proben ehstnischer und lappischer Poesie mittheilen, enthalten kein finnisches Lied. Schon viel früher war jedoch eine Probe finnischer Volksdichtung in Deutschland bekannt gemacht worden: Daniel Georg Morhof hatte 1682 in seinem »Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie« ein finnisches Bärenlied, das er der Historia ecclesiastica Sveo-Gothorum (Åbo 1675) des Bischofs Bång entnahm, mit einer wenig geschmackvollen deutschen Uebersetzung mitgetheilt. Ich setze es her, weil das Buch nicht Jedem gleich zur Hand sein dürfte:5
O schönes Wild von unsern Pfeilen,
Durch so viel Wunden hier berückt,
Das sich getraut bey uns zu heilen,
Will seyn von unsrer Speis' erquickt,
Durch dich wird uns nunmehr gelingen
Noch hundertmahl dergleichen Beut,
Und du kanst tausend Nutzen bringen,
Bistu zu kommen nur bereit.
Ich könnte hie vielleicht wohl kommen
Selbst von den Göttern hergesand,[8]
Die mir zu meinem Nutz' und Frommen,
Viel guter Beute bracht zur Hand.
Wird dieser Tag denn nun sich enden
So geh ich in mein Hausz hinein,
So will ich zwischen meinen Wänden,
Drey Nächte durch voll Freuden seyn.
Ich habe mich mit Lust und Glücke
Hieher durch Berg und Thal gebracht,
Nun komm ich frölicher zurücke,
All' Unlust habe gute Nacht.
Der Tag ist frölich angefangen,
Mit denen die noch übrig sein,
Bald kömmt er wieder hergegangen
Zu voller Lust und Freudenschein.
Ich ehre dich allzeit indessen
Von dir erwartend Beut und Danck,
Dass ich nicht möge dich vergessen
Und meinen guten Bärensang.
Zu welch unerträglicher Geschwätzigkeit sind hier die zwanzig kurzen trochäischen Verse des Originals auseinandergezogen!
Das nationale Erwachen Finnlands und das daraus hervorgehende ernstere Interesse für die im Volke bewahrten Reste der Vergangenheit datirt – merkwürdig genug – erst seit der Vereinigung aller finnischen Provinzen unter russischer Herrschaft, also seit dem Jahre 1808. Man weiss, mit wie weit gehender Selbständigkeit das Grossfürstenthum Finnland ausgestattet wurde und wie in Folge dessen der bis dahin übermächtige Cultureinfluss des Schwedischen immer mehr und mehr zurück trat. Nun nahm das Sammeln der Volkslitteratur einen immer grösseren Aufschwung. Gottlund, Poppius, Topelius und Lönnrot machten mehr oder minder bedeutende Sammlungen. Einzelne Kleinigkeiten wurden auch herausgegeben, das meiste aber blieb ungedruckt, weil die Bücher zu wenig Interesse und Absatz fanden – man braucht sich bloss an das Schicksal ähnlicher Unternehmungen[9] in grösseren Culturländern zu erinnern. Leicht hätte es gehen können wie mit den Sammlungen des achtzehnten Jahrhunderts, welche mit sehr wenigen Ausnahmen durch Feuersbrünste und Unachtsamkeit wieder verloren gegangen sind. Da erstand allen diesen Bestrebungen ein Mittelpunkt und Hort in der finnischen Litteraturgesellschaft. 1831 gestiftet, war sie besonders dazu berufen, die reichen Sammlungen von Elias Lönnrot dem finnischen Volke und der Nachwelt zu erhalten. Lönnrot, geboren 1802, ist am 19. März 1884, viel betrauert von dem Volke, dem die ganze angestrengte Arbeit seines Lebens gegolten, dahingeschieden. Er hat das in diesem Jahre gefeierte fünfzigjährige Jubiläum der Litteraturgesellschaft nicht mehr erlebt, deren Schriften in den von ihm besorgten Veröffentlichungen ihre schönste Zierde besitzen. Er kann mit Jacob Grimm verglichen werden, dem er zwar an Genialität und vielseitigem Wissen nicht gleich kam, wohl aber an hingebender Liebe und treuer, stiller Arbeit für sein Volk. Noch kurz vor seinem Tode hat er ein gross angelegtes finnisches Wörterbuch beendet.
Es sind, wenn wir von den Sammlungen der Sprichwörter (1842), Räthsel (1844) und Zauberlieder (1880) absehen, besonders die drei grossen von der Litteraturgesellschaft veröffentlichten Ausgaben der epischen Lieder, der lyrischen Gedichte und der Märchen, welche den grossen Reichthum des finnischen Volksgeistes erschlossen haben und geeignet sind auch ausserhalb ihrer engeren Heimat die weitesten Kreise zu interessiren.
Schon im Jahre 1835 erschien die erste Ausgabe der von Lönnrot gesammelten epischen Lieder, die seitdem so berühmt gewordene Kalevala, in zwei Bänden mit etwas über 12000 Versen in 32 Gesängen. Fortgesetzte Sammlungen in entlegenen Theilen des Landes ergaben eine so ungeahnte Fülle bisher unbekannter Lieder, dass die zweite Ausgabe[10] (1849) fast um das Doppelte vermehrt war: sie umfasst 50 Gesänge mit fast 23000 Versen. Das Bekanntwerden dieser epischen Volksdichtungen, die durch wohl zwei Jahrtausende bloss mündlich fortgepflanzt waren und bei aller Selbständigkeit der einzelnen Lieder doch eine fortlaufende und zusammenhängende Handlung zeigen, war von der grössten Bedeutung für die Entscheidung der Fragen, die sich überhaupt an Entstehung und Entwickelung des Epos knüpfen und die besonders auf dem Gebiete der altgriechischen und altdeutschen Litteratur zu so hitzig geführtem Streite Veranlassung gegeben haben. Man kann sagen, dass die finnische Kalevala in der Mitte der Entwickelungsreihe liegt, deren einen für uns erkennbaren Endpunkt die serbischen und südrussischen Heldenlieder, den andern die Ilias und die Odyssee bilden. Rechnet man dazu die hohe Bedeutung dieser alten Lieder für die Erkenntniss eines vor aller Geschichte liegenden Culturzustandes der Finnen – was bei den bekannten, linguistisch nachweisbaren Wechselbeziehungen finnischer und germanischer Stämme auch für die deutsche Alterthumskunde nicht ohne Ertrag war – so wie die trotz mancher Längen bald in die Augen springenden hohen poetischen Schönheiten der Lieder, so wird man die sympathische Begrüssung verstehen, die Jacob Grimm denselben bereits 1846 zu Theil werden liess.6
Grimm konnte damals bereits eine schwedische Uebersetzung des Epos von Alexander Castrén (1841) benutzen, der sich ebenfalls um die finnische Alterthumskunde hoch verdient gemacht hat und dessen letztes Werk eine erst nach seinem 1852 erfolgten Tode heraus gegebene finnische Mythologie war.7[11]
Auch ins Französische wurde die erste Ausgabe der Kalevala schon 1845 von Léouzon-le-Duc übertragen, der auch eine heute natürlich veraltete Studie über die Urgeschichte, die Mythologie und die epische Dichtung Finnlands hinzufügte. Nach dem Erscheinen der zweiten Lönnrot'schen Ausgabe fertigte Anton Schiefner seine deutsche Uebersetzung der Kalevala an.8 Man kann nicht behaupten, dass sie der Dichtung in Deutschland viele Freunde geworben hat. Sie war weniger von aesthetischen als von philologischen Gesichtspunkten geleitet. Allerdings waren auch gegen das philologische Verständniss des Einzelnen recht viele Einwendungen zu machen, wie das in ziemlich scharfer Weise in der Besprechung von Ahlqvist in der finnischen Zeitschrift Suomi geschehen ist. Im ganzen rechtfertigte die Uebersetzung einigermassen den herben Witz: »Herr Schiefner hat seine Arbeit den Manen des edlen Castrén gewidmet; sollte er über kurz oder lang eine zweite sehr verbesserte Auflage publiciren, so empfehlen wir ihm, statt jener Worte, folgenden Vers aus Racine's Phèdre:
›pour apaiser ses manes et son ombre plaintive ...‹«
Ahlqvist hat schon damals auf einige Grundsätze hingewiesen, welche die Uebersetzer des finnischen Epos leiten sollten. »Es wäre den Uebersetzern leicht gewesen der Beschuldigung des Mangels an Formschönheit zu entgehen, hätten sie nur sich vorgenommen dasjenige zu ersetzen, was keine Nachahmung zuliess. Sollten die Uebersetzungen durchaus trochäisch sein – obgleich der Jambus im Schwedischen wie im Deutschen viel häufiger gebraucht wird – so müsste des finnischen Trochäus Beweglichkeit und Abwechslung[12] ersetzt werden durch Einschiebung eines oder mehrerer Dactylen, nach Beschaffenheit des Inhalts. Ferner müsste der Vers dann und wann einen männlichen Schluss haben ....« und so weiter. Ich weiss nicht, ob diese Worte Hermann Paul bekannt gewesen sind, der seine Uebersetzung der Kalevala jedenfalls ganz nach diesen Grundsätzen ge macht hat.9 Sie ist eine treffliche Leistung deutscher Uebersetzerkunst, in fliessender und geschmackvoller Sprache, dabei die Einfachheit und sinnliche Naturfülle des Originals nirgends verwischend, und wird wahrscheinlich viel dazu beitragen einer hochbedeutsamen Dichtung der Weltliteratur auch bei uns in etwas weiterem Kreise Eingang zu verschaffen. Leider ist Paul nach dem Erscheinen des ersten Bandes, welcher 25 Runen, also die Hälfte des Ganzen, enthält, gestorben. Hoffentlich wird das, wie ich höre, fertige Manuscript der zweiten Hälfte bald gedruckt werden.
Schon früher hatte uns Paul mit einer Verdeutschung des Kanteletar beschenkt.10 Kantele heisst das finnische Musikinstrument, dessen Erfindung durch Väinämöinen in der Kalevala erzählt wird und über das man die ausführliche Auseinandersetzung bei Retzius nachlesen mag.11 Davon hat Lönnrot die Sammlung lyrischer Lieder benannt, welche er im Jahre 1840 herausgab. Paul's Uebersetzung, welche mit Weglassung von Varianten und unbedeutenden Bruchstücken etwa die Hälfte der Originalausgabe umfasst,[13] setzt auch Fernerstehende in Stand, sich an den Erzeugnissen einer Volksdichtung zu erfreuen, welche einfache Gedanken in mannichfachster Abwechslung darzustellen und ein wenig complicirtes und von keinem Zwiespalt zerrissenes Seelenleben mit grosser Zartheit und Tiefe der Empfindung zum Ausdruck zu bringen weiss, ernst und still wie die Urwälder und Landseen Finnlands.
Später als den in poetischer Form überlieferten Resten finnischer Volksdichtung wandte man den Märchen seine Aufmerksamkeit zu. Erst am Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre wurden eigens ihretwegen Sammler ausgeschickt. Das so zusammengebrachte Material wurde von Eero Salmelainen (Erik Rudbeck) geordnet und in den Jahren 1852–1866 in vier Heften herausgegeben.12 Aus diesen ist das vorliegende Buch übersetzt. Es ist die erste Sammlung finnischer Märchen, welche in deutscher Uebersetzung geboten wird. Nur vereinzelte Stücke der Rudbeck'schen Sammlung waren früher an zerstreuten und schwer zugänglichen Orten mitgetheilt worden. So machte bald nach dem Erscheinen des ersten Heftes das von A. Erman herausgegebene »Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland« in seinem dreizehnten Bande (1854) S. 476 ff. auf die Sammlung aufmerksam und theilte drei Märchen mit: »Die vom Bösen geschenkten Instrumente«, »Das Mädchen im dritten Stockwerke der Hofburg« und »Lippo und der Tapio«, von denen das erste und das dritte sich in unserem Buche als No. 17 und No. 2 finden, während das zweite eine Variante unserer No. 8 ist. Derselbe Band brachte S. 580 ff. noch die Uebersetzung des Märchens »Die auf der Insel Leben den« (Saaressa eläjät, Rudbeck I2 99 ff.),[14] eine Variante unserer No. 11. Im sechzehnten (1857) und siebzehnten (1858) Bande desselben »Archivs« sind drei Märchen aus dem zweiten Hefte Rudbeck's übersetzt.13 Ferner sind in dem mir nicht zugänglichen Buche von Dr. Bertram Jenseits der Scheeren oder der Geist Finnlands (Leipzig 1854) drei Märchen übersetzt: »Die sonderbare Fleuduse«, »Das Mädchen aus dem Meere« und »Der vigilante Jäger«, also unsere No. 16, 10 und 2. Auch in Grässe's »Märchenwelt«, die ich ebenfalls nicht habe einsehen können, sollen sich nach Herrn Reinhold Köhler's Mittheilung einige finnische Märchen befinden.
Die in dem vorliegenden Buche übersetzten Märchen entsprechen in folgender Weise den Märchen des Originals:
[15] Von den Thiersagen steht der erste grosse Cyklus »Bär, Fuchs und Wolf und ihre Abenteuer auf der Ilmola-Feldmark« bei Rudbeck III 3 ff; das 17. Abenteuer ist von der Uebersetzerin aus dem Ehstnischen hinzugefügt. Die übrigen Thiermärchen entsprechen folgenden Stücken des Originals:
[16] No. 11–14 sind aus noch ungedruckten Originalen übersetzt, über die ich später noch ein Wort sagen werde.
Es ist eine wohl schon über den Kreis der Fachgelehrten hinaus bekannt gewordene Thatsache, dass die Märchen der europäischen Völker kein den einzelnen von ihnen speciell zugehöriges Eigenthum sind, sondern dass alle oder wenigstens fast alle bei den einzelnen in mehr oder weniger genau zu einander stimmenden Varianten erzählt werden, dass ferner viele derselben auch bei den benachbarten Völkern Asiens und Afrikas vorkommen, dass endlich selbst bei entlegenen, gänzlich uncultivirten Stämmen Afrikas und Amerikas sich zu manchen die überraschendsten Parallelen nachweisen lassen. Die einzige Theorie, welche diese merkwürdige Erscheinung befriedigend zu erklären vermag, ist die Wanderungstheorie. Danach ist ein Märchen an einem Punkte entstanden und hat sich, wie heutigen Tages Witzworte und Anekdoten, durch Weitererzählen von einem Volke zum andern verbreitet. Man kann in dieser Weise sowohl die häufig bis zu wörtlicher Gleichheit gehenden Uebereinstimmungen verstehen als auch zu den ebenso bemerkenswerthen Abweichungen Stellung nehmen, die sich besonders durch Verschmelzung mehrerer Märchen zu einem, durch Verschleppung einzelner Märchenzüge an andere Stellen und durch Anpassung des aus der Fremde eingewanderten Märchens an die psychische Individualität und die Lebenserscheinungen des entlehnenden Volkes erklären lassen. Dabei ist es, wie ich glaube, durchaus nicht nöthig anzunehmen, dass einzig und allein Indien das Mutterland aller unserer Märchen und märchenartigen Erzählungen ist. Uralte ägyptische Märchen müssen, so lange nicht zwingende Gegengründe angeführt sind, als eigenste Erfindung der Aegypter betrachtet werden, und das Vorhandensein durchaus origineller Erzählungen bei den Eingeborenen Afrikas und Australiens[17] ist völlig unbestreitbar. Und wenn die letztern hie und da in einzelnen Zügen sowohl als auch in der ganzen Richtung auffallend an unsere Märchen anklingen, so kann man oft gewiss mit Fug auf die gemeinsamen Grundlagen der menschlichen Phantasie zur Erklärung dieser Thatsache hinweisen.14
Der verstorbene Theodor Benfey hat zuerst in seiner berühmten Einleitung zu der Uebersetzung des indischen Fabelwerks Pantschatantra den richtigen Weg für die Behandlung dieser Fragen eingeschlagen und Indien als die Heimat des grössten Theiles, wenn nicht aller Erzählungsstoffe des Abendlandes nachzuweisen gesucht. Ich betone hier nicht zum ersten Mal, dass es mir Zeit scheint, jetzt, wo nicht bloss indische Quellen in grösserer Reichhaltigkeit uns zugänglich gemacht worden sind, sondern wo wir auch über die Märchen und Fabeln der Weltliteratur einen viel weiteren Umblick haben, diese Untersuchungen wieder aufzunehmen. Es ist ungemein zu beklagen, dass Reinhold Köhler sein ungeheures und von keinem andern auch nur annähernd erreichtes Wissen auf diesem Gebiete bis jetzt wenigstens noch nicht in den Dienst einer grösseren Arbeit gestellt hat, um die Heimat und die Wanderungen der Märchenstoffe im einzelnen darzulegen, für deren allgemeine Gruppirung und Zurückführung auf gewisse Grundtypen J.G.v. Hahn in der Einleitung zu seinen »Griechischen und albanesischen Märchen« eine dankenswerthe Vorarbeit geliefert hat.
Es ist nicht meine Absicht zu den einzelnen Märchen unseres Buches einen fortlaufenden Commentar zu liefern. Schon der finnische Herausgeber hat den einzelnen Stücken Nachweisungen aus Märchensammlungen anderer Völker vorgesetzt, an die man leicht anknüpfen kann, um die Stoffe[18] weiter zu verfolgen. Ich will mich auf einige mehr allgemeine Bemerkungen beschränken.
Für die Vergleichung von Märchen fällt nach dem oben Bemerkten nicht so sehr die ethnologische oder sprachliche Verwandtschaft der Völker ins Gewicht, als ihre Berührungen in Folge geographischer Nähe oder historischer Ereignisse. Das ist der Grund, weshalb ich im Stande war, auf specielle Uebereinstimmungen zwischen arabischen und sicilianischen Märchen hinzuweisen (Essays und Studien S. 186 ff.). Wenn man aber mit den finnischen Märchen zunächst ehstnische und lappische vergleichen will, so mag man das thun, dabei aber nicht an die Stammverwandtschaft der Völker, sondern an ihre geographische Verbreitung denken. Wie sehr bei den Lappen, diesem kümmerlichsten und poesielosesten der finnischen Stämme,15 die Farben der Märchen verblasst sind, sieht man zum Beispiel aus einer Vergleichung des Märchens »Die Tochter des Beivekönigs« bei Poestion a.a.O. S. 236 ff. mit unserer damit identischen No. 5. Von nicht verwandten Völkern haben natürlich vor allem die Schweden und Norweger und die Russen Anrecht darauf als die Märchenlieferanten für Finnland betrachtet zu werden, und damit tritt die finnische Märchendichtung in engen Zusammenhang mit der germanischen und slavischen überhaupt. Wir haben für diese an und für sich selbstverständliche Thatsache zum Ueberfluss ein bestimmtes Zeugniss. Im Jahre 1855 schrieb Lönnrot an Schiefner: »Als ich einen Finnen fragte, woher er so viele Märchen wisse, antwortete er mir: ›Ich habe mehrere Jahre nach einander bald bei russischen, bald bei norwegischen Fischern am Eismeer Dienste gethan, und so oft der Sturm uns vom Fischfang abhielt, vertrieben wir uns die Zeit mit Märchen und Erzählungen. Dann und wann war mir ein Wort oder[19] eine Stelle unverständlich, doch errieth ich den allgemeinen Inhalt aller Märchen, die ich nachmals mit selbsterfundenen Zusätzen daheim wiedererzählte‹«.16 Diese Stelle ist nicht uninteressant für die Lehre von der Wanderung der Märchen und Sagen.
Eine Abtheilung unseres Buches wird in dieser Beziehung besonderes Interesse für sich in Anspruch nehmen dürfen, nämlich die Thiermärchen. Wir lernen hier eine grosse Anzahl finnischer Märchen kennen, die sich um den Fuchs, den Wolf und den Bären als Hauptfiguren gruppiren, mit andern Worten Märchen des bekannten Reineke-Kreises. Man kennt die verschiedenen Ansichten, welche über das Verhältniss dieser Reineke-Märchen zu den litterarischen Bearbeitungen der Thiersage, dem sogenannten Thierepos, aufgestellt worden sind, und wie sich in der Anschauung über Wesen und Ursprung des letzteren seit Jacob Grimm ein so bedeutender Umschwung vollzogen hat. Es ist hier nicht der Ort auf diese Frage ausführlich einzugehen; ich deute nur kurz die Ansicht an, welche ich mir über dieselbe gebildet habe. Thiermärchen, welche den Löwen und den Schakal zu Hauptfiguren hatten, waren in Indien entstanden und hatten sich von dort, wahrscheinlich zugleich mit der lehrhaften Tendenz, die ihnen entweder ursprünglich anhaftete oder in sie hineingetragen worden war, nach dem Occident verbreitet. Die aesopischen Fabeln der Griechen sind aus solchen volksthümlichen Märchen gewissermassen destillirt. Diese litterarischen Fabeln gingen zunächst wesentlich durch Vermittelung der Römer zu den übrigen Völkern Westeuropas über und haben bekanntlich ungeheuer lange fortzeugende Kraft besessen. Daneben ist ein lebendiger Strom mündlicher Ueberlieferung anzunehmen, der die alten Volkserzählungen ebenfalls nach dem Abendlande trug.[20] Seiner Bahn im einzelnen nachzuspüren wird vermuthlich für immer verlorene Mühe sein; hier gilt das Wort Liebrechts: »Ein Märchen, eine Erzählung u.s.w. findet Wege der Fortpflanzung, die sich oft durchaus allem näheren Nachweise entziehen«. Es sind wesentlich ausserhalb der Thiermärchen liegende Momente, die mich bestimmen, anzunehmen, dass für den Westen Europas Italien, für den Osten (zunächst also für die slavischen Völker) Byzanz die Vermittlerin gewesen ist; und es freut mich, in dieser schon früher von mir geäusserten Ansicht (Essays und Studien S. 227) mit dem mir erst später bekannt gewordenen Buche des russischen Gelehrten Kolmaěevsky »Das Thierepos im Westen und bei den Slaven«, Kasan 1882; zusammen zu treffen. Ziemlich früh hat man, zunächst in französischen Klöstern, diese Thiergeschichten theils einzeln, theils zu vielfach von einander abweichenden Gruppen zusammen geschlossen, litterarisch verwerthet, auch hier wieder mit didaktischer, diesmal vorwiegend satirischer Tendenz. Das »Thierepos« ist also ein verhältnissmässig sehr spätes Product gelehrter geistlicher Dichtung, das seine Frische und Ursprünglichkeit lediglich den zu Grunde liegenden Volksmärchen zu danken hat. Diese, die ja ohnehin in dem »Epos« nicht ohne Rest aufgingen, wurden daneben ruhig weiter erzählt und weiter verbreitet; zunächst wenigstens sind jene litterarischen Thierdichtungen gewiss ohne jeden Einfluss auf das Volk geblieben. Wieweit ein solcher später, als der Reineke vielfach zum Volksbuch geworden war, anzunehmen sei, darüber wage ich kein Urtheil auszusprechen; ganz wird er kaum abzuleugnen sein, weiss doch J. Wolff in der Einleitung zu Haltrich's Siebenbürgisch-deutschen Thiermärchen sogar von einem aus Goethe's Reineke Fuchs stammenden Märchen zu berichten.17 Es scheint mir jedoch nicht nothwendig,[21] da Einfluss der litterarischen Gestaltungen auf die volksthümliche Version anzunehmen, wo, wie bei den Siebenbürger Sachsen und in unsern finnischen Märchen, solche Fuchsmärchen auch zu grösseren Cyklen zusammengefasst erscheinen.18 Das ist gelegentlich durch einen oder den andern besonders begabten Erzähler geschehen; im grossen Ganzen laufen die Thiermärchen nur als einzelne Stücke um. Es ist dem Zusammenschweissen epischer Lieder zu epischen Cyklen und weiter der Verbindung mehrerer einzeln gesungenen Strophen zu längeren lyrischen Liedern zu vergleichen. Die selbstständig erzählten oder gesungenen einzelnen Geschichten, Lieder und Strophen kommen immer daneben auch vor.19 Uebrigens will ich der Mahnung Hrn. Wesselofsky's solche Märchencyklen mit den litterarischen Bearbeitungen der Thiersage zu vergleichen durchaus[22] aus nicht entgegen treten; soweit ich aber sehe, wird eine solche Vergleichung durchaus nur ein negatives Resultat ergeben.
Die ehstnische Sammlung von Kreutzwald-Löwe enthält keine Thiermärchen; wohl hat aber schon J. Grimm in seiner Einleitung zum Reinhart aus andrer Quelle ehstnische Thiermärchen benutzen können. Poestion's Uebersetzung lappischer Märchen wird durch einige Thiersagen eröffnet, von denen die beiden ersten ebenfalls bekannte Episoden des Reineke-Kreises enthalten und ebenfalls auf cyklische Märchenbildung bei den Lappen hindeuten.20 Damit ist wohl die Nachricht zu verbinden, dass Gustav von Düben auf seinen Wanderungen durch die schwedischen Theile von Lappland ein langes Reineke-Fuchs-Gedicht hörte (Poestion S. 3); leider ist sonst nichts über dasselbe bekannt geworden. Herrn Kolmaěevsky sind für seine Studie über[23] das Thierepos die finnischen Thiermärchen unbekannt geblieben.
Die nicht dem Reineke-Kreise angehörigen Thiermärchen sind entweder kleine Geschichten, welche den Ursprung gewisser in die Augen fallender Eigenthümlichkeiten der Thiere erklären sollen (so unsere No. 6) oder kleine Schwänke. Das sind die beiden Gebiete, wo der Erfindungskraft der einzelnen Völker der weiteste Spielraum gelassen ist. Doch wird man z.B. in No. 12 (der Kaulbarsch und der Lachs) die bekannte Erzählung vom Wettlauf des Hasen und des Swinegels wiedererkennen. Die Fische, welche Meer und Landseen Finnlands in so grosser Anzahl bieten, spielen in der Poesie der Finnen wie der Lappen überhaupt eine hervorragende Rolle; auch in Lappland wird der betreffende Scherz vom Lachs und Pottfisch erzählt (Poestion S. 23). Zielinski hat in seiner Abhandlung über die attische Märchenkomödie wahrscheinlich zu machen gesucht, dass auch im altgriechischen Volksmärchen die Fische einen bedeutenderen Platz einnehmen als bei uns;21 was ja an und für sich durchaus nicht unwahrscheinlich ist. Ich bin sonst weit davon entfernt den zum Theil an allzu dünnen Fäden hängenden Constructionen des Verfassers überall beizustimmen. Es ist aber erfreulich, dass man doch die Aufgabe nicht aus den Augen verliert den Spuren von Volksmärchen in der antiken Litteratur nachzugehen. Von Friedländer und Rohde sind in dieser Hinsicht bereits werthvolle Andeutungen gemacht worden; und wir dürfen noch mehr wahrscheinlich von Eduard Zarncke erwarten, der in seiner Untersuchung über das in den plautinischen Miles gloriosus eingewebte Märchen ein vortreffliches Muster für solche Arbeiten gegeben hat.[24]
Ich will bei dieser Gelegenheit auf ein finnisches Oedipus-Märchen hinweisen, das im zweiten Hefte der Rudbeck'schen Sammlung steht. Es ist von der Uebersetzerin nicht mit aufgenommen worden, findet sich aber in Erman's Archiv XVII 14 ff. Sein Inhalt ist folgender: Zwei weise Männer übernachten auf einem Bauernhofe. Dort war eben ein Schaf im Lammen begriffen und die Frau in Kindesnöthen. Sie stehen beiden bei, weissagen aber zugleich, das Lamm werde von einem Wolfe gefressen werden und der Knabe werde seinen Vater tödten und seine Mutter heirathen. Das Lamm wird bei einem Festmahl geschlachtet, aber eben als man es nach der Suppe auf den Tisch bringen will, sieht man, wie ein Wolf die letzten Bissen verschlingt. Nun will der Vater das Kind tödten, aber auf der Mutter Bitten wird es auf ein Brett gebunden und ins Meer geworfen; doch hat es bereits eine kleine Messerwunde an der Brust davon getragen. Das Knäblein wird an den Strand getrieben und von dem Abte eines Klosters erzogen. Erwachsen, macht sich der Bursche auf die Wanderschaft und tritt als Knecht auf einem Bauernhofe ein. Er bekommt ein Rübenfeld zu hüten und erschiesst den Hausherrn, der selbst bei Nacht kommt, um sich eine Schürze voll Rüben zu holen. Nach einiger Zeit nimmt die Wittwe den Knecht zum Ehegatten; bei gemeinsamem Baden entdeckt sie an der Narbe auf der Brust, dass er ihr Sohn sei. Voll Verzweiflung macht sich der Unglückliche auf den Weg, um von den Schriftkundigen zu erfahren, ob Sohn und Mutter Vergebung finden könnten. Zwei Mönche, die ihm verneinend antworten, erschlägt er; von einem dritten erfährt er, ihnen würde vergeben werden, wenn er Wasser aus einem Felsen hervorgraben und ein auf dem Schoosse seiner Mutter ruhendes Schaf weiss werden würde. Beides geschieht, als er eines Tages einen Rechtsverdreher so vor die Stirn schlägt, dass er todt niederfällt.[25]
Poestion's lappische Märchen enthalten zwei Versionen der Polyphemsage. Die eine derselben (S. 122 ff.) stimmt sehr genau zu der homerischen Darstellung: der Lappe, der mit seinen Gefährten in die Höhle des Riesen gerathen ist, blendet ihn mit geschmolzenem Blei, das er ihm statt einer Augensalbe in die Augen giesst, gibt ihm als seinen Namen »Garniemand« an und rettet sich sammt den Andern in den Häuten geschlachteter Böcke aus der Höhle. Die andre hat nur einen Zug bewahrt (S. 72): ein Lappe kommt in die Hütte einer Hexe, gibt ihr als seinen Namen »Selbst« an und verbrennt ihr das Gesicht mit kochendem Wasser. Als ihre Genossen sie um den Grund ihres Wehgeschreies fragen, antwortet sie: »Selbst mich verbrannte!«
Es ist eine hübsche und dankbare Aufgabe, deren Lösung nicht mehr allzu lange hinausgeschoben werden sollte, die Volksmärchen auszuschälen, die in die homerischen Gedichte Eingang gefunden haben. Hierfür wird die Vergleichung der Kalevala mit finnischen und verwandten Märchen eine lehrreiche Parallele bieten. Schiefner hat nach dem Erscheinen der beiden ersten Hefte der Rudbeck'schen Sammlung eine sehr inhaltreiche Anzeige derselben geschrieben, in welcher er besonders dieser Seite des Gegenstandes gerecht geworden ist.22 Ein Aufsatz Schiefner's in Erman's Archiv (XXII 608 ff.) bringt Nachträge zu dieser Abhandlung. Hier wird auch die gewiss richtige Beobachtung ausgesprochen, dass »gewisse wesentliche Erscheinungen in Kalevala erst den Märchencyklen ihr Dasein verdankten«. Das scheint mir unzweifelhaft von einigen Zügen der Episode von dem schon als Kind übermässig starken Kullervo, der z.B. (in der 33. Rune) ebenso Bären und Wölfe statt der Heerde nach Hause treibt, wie in unserm dritten Märchen[26] Mikko Mieheläinen die wilden Thiere an seinen Schlitten spannt und wie in einem russischen Märchen Iwaschko Bärenohr einen Bären nach Hause treibt und in die Hürde sperrt. Im allgemeinen wird sich allerdings, da es sich ja bloss um zwei verschiedene Seiten der Volksdichtung handelt, eine Wechselwirkung zwischen Epos und Märchen nicht ableugnen lassen, und die Grenzbestimmung des beiderseitigen Einflusses wird nicht immer leicht sein. Gleich dasjenige Märchen, welches unsere Sammlung eröffnet, »Die Brautfahrt des Schmiedes Ilmarinen«, ist aus Zügen der Kalevala zusammengesetzt. Die beiden im Märchen nicht näher bezeichneten Freier, die mit Ilmarinen zusammen auftreten, sind natürlich Niemand anders als Väinämöinen und Lemminkäinen. Die Vorbereitungen Ilmarinens zur Brautfahrt stimmen sehr genau zu der Erzählung in der achtzehnten Rune des Epos: dort heizt ihm die Schwester Annikki (im Märchen die Mutter) zuerst die Badestube, bringt ihm dann Leinenhemd, Unterkleider und Strümpfe, und der Knecht spannt dann das schnelle Füllen vor den buntgeschmückten Schlitten (V. 383 ff.). Wie in unserm Märchen, bekommt im Epos Ilmarinen drei Aufgaben (19. Rune); die erste derselben, das Umpflügen des Schlangenfeldes, ist dem Epos und dem Märchen gemeinsam.23 Die beiden andern Aufgaben stimmen nicht überein; doch lässt sich für die dritte, wo Ukko Untamo Ilmarinen verschluckt und dieser in seinem Magen sich eine Schmiede einrichtet, an die 17. Rune der Kalevala anknüpfen, wo Väinämöinen von Vipunen verschluckt wird und ihn durch Hämmern und Schmieden in seinem Leibe so lange quält, bis er ihm seine ganze Weisheit vorsingt. Im Epos wird Ilmarinen's Frau von Kullervo's wilden Thieren zerrissen; er schmiedet sich[27] dann aus Gold und Silber eine andere Frau (Pygmalion!); als er am Morgen, nachdem er bei ihr geruht, erwachte, war die der Jungfrau zugewandte Seite kalt. Nach diesem verunglückten Versuche raubt er aus Nordland die jüngere Schwester seiner ersten Frau, die ihn unterwegs beschimpft und dafür von ihm aus Zorn in eine Möwe verwandelt wird (37. und 38. Rune). Beide Züge enthält auch unser Märchen, aber in umgekehrter Reihenfolge; hier wird die erste Frau, die sich Ilmarinen durch Verwandlungen dreimal24 entziehen will, in eine Möwe verwandelt, schliesslich aber, als das Experiment mit der kupfernen Frau misslungen ist, wieder zum Weibe gemacht.
Ich will diese einleitenden Bemerkungen nicht schliessen, ohne darauf hinzuweisen, dass die finnische Litteraturgesellschaft neuerdings sich wieder in hervorragender Weise der Sammlung der Volksüberlieferungen zugewendet hat. Ich kann darüber aus einem in der französischen Zeitschrift »Mélusine«25 abgedruckten Briefe von Hrn. Eliel Aspelin und aus einem an die Uebersetzerin gerichteten Briefe von Hrn. J. Krohn das Folgende mittheilen. In alle Theile des Landes sind in den letzten zehn Jahren Sammler geschickt worden, die sich besonders des neuen Hilfsmittels der Stenographie für ihre Aufzeichnungen bedienen konnten. So haben die Herren Borenius, Genetz u.A. eine grosse Menge Varianten zum Nationalepos gesammelt, deren Redaction den Herren J. Krohn und Borenius anvertraut worden ist.[28]
Der erstere hat auch eine umfassende historisch-aesthetische Studie über das Epos zu veröffentlichen begonnen. Herr Aspelin besorgt eine neue Ausgabe der Sprichwörter, die seit Lönnrot von etwa 7700 auf 10000 bis 11000 gestiegen sind. Herr Porkka hat eine ungemein interessante Sammlung von »Thränenliedern«, von denen sich bei Lönnrot nur wenig Proben fanden, vorbereitet. Viele lyrische Gedichte, Zauberlieder, Zauberformeln aus dem wenig civilisirten Nord-Osten des Landes sind zusammengebracht; Borenius hat auch Melodien epischer Lieder aufgezeichnet. Auf Märchenjagd gingen unter Andern die Herren Sjoeros, Mustakallio und Karl Krohn aus; besonders der letztere hat von seinen fünf in den Jahren 1881–1885 unternommenen Reisen ein sehr reiches Material heimgebracht, dem die paar nicht aus Rudbeck stammenden Thiermärchen unserer Sammlung entnommen sind; er hat sie noch vor der finnischen Veröffentlichung der Uebersetzerin freundlichst zur Verfügung gestellt. Dieselbe soll mit den Thiermärchen beginnen, welche nächstes Jahr, etwa 20 Bogen stark, erscheinen werden.
Eine Stelle aus dem Briefe von Hrn. J. Krohn kann ich mir nicht versagen hier abzuschreiben: »Ausser den eigens auf Kosten der Gesellschaft durch herumreisende Sammler veranstalteten Sammlungen hat man bekannt gemacht, dass für eingesandte Sammlungen, wenn sie gewisse vorgeschriebene Regeln erfüllen (genaues Angeben des Fundortes, des Erzählers u.s.w.), Preise je nach dem Umfange und Werthe des Manuskripts ausgezahlt werden, in den meisten Fällen in von der Litteraturgesellschaft herausgegebenen Büchern bestehend, ausnahmsweise auch in Geld. Dieser Aufruf hat eine wahre Sündfluth von Zusendungen zu Wege gebracht. Volksschullehrer, Schüler der gelehrten Schulen, Bauern, Frauen, selbst Tagelöhner schicken unaufhörlich grössere und kleinere Sammlungen, jeder aus seiner nächsten[29] Heimath. Natürlich ist nicht Alles von gleichem Werthe, aber der grösste Theil doch verwendbar. Ich führe dies an, weil es mir scheint, als hätte man in den grösseren Culturländern nicht genug verstanden, auch das Volk für wissenschaftliche Zwecke zu interessiren. Bei uns wird in derselben Art auch vielfach für Alterthumskunde und vaterländische Geschichte mit gemeinschaftlichen Kräften gearbeitet.«
Es wird von der Theilnahme, welche der vorliegende Band findet, abhängen, ob die Uebersetzerin sich entschliessen wird auch von den neuen durch die finnische Litteraturgesellschaft zusammengebrachten Schätzen den Folkloristen anderer Länder durch eine deutsche Uebersetzung Einiges zu vermitteln. Die lebendige und innige Theilnahme, welche sich diese hochgebildete, schriftstellerisch und künstlerisch strebende Frau für ihre Heimat zu erhalten wusste, hat auch dieser Uebersetzung einfacher und so oft gering geachteter Volksmärchen warmes Leben eingehaucht. Möge man das bei uns anerkennen, wo man ja stets fremden Litteraturerzeugnissen eine gastliche Stätte gegönnt hat; möge man aber auch in Finnland selbst dankbar dafür sein.
Graz, Ende October 1886.
Gustav Meyer.
1 | Ehstnische Märchen. Aufgezeichnet von F. Kreutzwald. Aus dem Ehstnischen übersetzt von F. Löwe. Halle 1869. – Zweite Hälfte. Dorpat 1881. Aeltere Mittheilungen ehstnischer Märchen zählen W. Grimm Kinder- und Hausmärchen III 353 (1856) und Schiefner im Vorwort zum ersten Bande von Kreutzwald-Löwe S. V auf. |
2 | Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Nach lappländischen, norwegischen und schwedischen Quellen von I.C. Poestion. Wien 1886. |
3 | Vgl. Porthan De poesi fennica 1766. Lencquist Specimen academicum de superstitione veterum Fennorum theoretica et practica Åbo 1782. Ganander Mythologia fennica Åbo 1789. |
4 | Hempelsche Ausgabe I 97: ›Käm' der liebe wohlbekannte‹. – Voyage pittoresque au Cap Nord par A.F. Skjöldebrand. 1801. |
5 | S. 375 f. in der mir vorliegenden Ausgabe Lübeck und Franckfurt 1700, deren Orthographie und Interpunction beibehalten sind. |
6 | Ueber das finnische Epos. In Hoefer's Zeitschrift für die Wissenschaft der Sprache I 13 ff. |
7 | Castrén's Vorlesungen über finnische Mythologie. Im Auftrage der Kais. Akademie der Wissenschaften aus dem Schwedischen übertragen und mit Anmerkungen begleitet von H. Schiefner. St. Petersburg 1853. |
8 | Kalewala, das National-Epos der Finnen, nach der zweiten Ausgabe ins Deutsche übertragen von Anton Schiefner. Helsingfors 1852. |
9 | Kalewala, das Volksepos der Finnen. Uebersetzt von Hermann Paul. I. Helsingfors 1885. Vgl. dazu die lesenswerthe Besprechung von Roman Woerner in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung 1886 No. 210 und 211. |
10 | Kanteletar, die Volkslyrik der Finnen. Ins Deutsche übertragen von Hermann Paul. Helsingfors 1882. |
11 | Finnland. Schilderungen aus seiner Natur, seiner alten Cultur und seinem heutigen Volksleben von Gustaf Retzius. Autorisirte Uebersetzung von C. Appel. Berlin 1885. S. 128 ff. |
12 | Suomen Kansan Satuja ja Tarinoita. I. Helsingissä 1852. II 1854. III 1863. IV 1866. Die ersten beiden Hefte liegen mir in zweiter Ausgabe 1871 und 1873 vor, nach welcher ich im Folgenden citire. |
13 | XVI 236 Anton Puuhara = Rudbeck II2 100 ff. Autti Puuhaara. XVII 14 Die Weissagungen = Rudbeck II2 64 ff. Ennustukset. XVII 21 Nicht so was = Rudbeck II2 53 ff. Ei-niin-mitä. |
14 | Ich habe mich über diese Fragen ausführlicher an mehreren Stellen meiner »Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Volkskunde« (Berlin 1885) ausgesprochen, z.B. S. 177 ff. 221 ff. |
15 | Vgl. O. Donner, Lieder der Lappen (Helsingsfors 1876) S. 22. |
16 | Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland XXII 614. |
17 | Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere Schriften von Josef Haltrich. In neuer Bearbeitung herausgegeben von J. Wolff. Wien 1885. S. 4. In dieser Einleitung ist die Frage der Thiermärchen – im Gegensatz zu Haltrich, der ganz Grimm'schen Anschauungen huldigte – ansprechend auseinander gesetzt. Vgl. jetzt auch die lichtvolle Darlegung in Reissenberger's Einleitung zu seiner Ausgabe des Reinhart Fuchs (Halle 1886). |
18 | Die Siebenbürger Märchen stehen in dem eben an geführten Buche von Haltrich – Wolff S. 29 ff. und bei Haltrich, Deutsche Volksmärchen in Siebenbürgen, 3. Auflage, Wien 1882, S. 269 ff.; die finnischen Märchen in unserem Buche S. 183 ff. |
19 | Vgl. z.B. No. 9 der »Finnischen Märchen«: Der Wolf als Grenzwächter. Hier sind nur zwei Erzählungen combinirt, die von der Sau, die ihre Ferkel taufen will, bevor sie der Wolf frisst, und die von dem Erlaubnissschein, den die Stute dem Wolf an ihrem Hufe sehr deutlich vordemonstrirt. Beide Geschichten stehen auch bei Haltrich-Wolf, dort in einem grösseren Cyklus, aber ohne gerade aneinander angereiht zu sein. Sie gehören auch sonst zu den verbreitetsten Thiermärchen: vgl. Grimm Reinhart S. LXXVII, 12. LXXV. CCLXIII. Hahn, Griechische und albanesische Märchen No. 92. Wagner, Carmina graeca medii aevi S. 120. 135. Krauss, Sagen und Märchen der Südslaven I 1. |
20 | Beide enthalten die bekannte Erzählung, wie der Fuchs sich tot stellt, von einem Bauern auf den Wagen geladen wird und die Fische von demselben stiehlt. Daran reiht sich hier, wie anderwärts, die Erzählung vom Fischfang des Wolfes (hier Bären), bei dem diesem der Schweif einfriert. Beide Märchen finden sich in unserer finnischen Sammlung nicht. Wohl aber ein drittes, welches in No. 2 der lappischen Märchen mit jenen beiden contaminirt ist. Fuchs und Bär dreschen zusammen, bei der Theilung weist der Fuchs dem Bären, der mehr gearbeitet habe, den grösseren Haufen zu und dieser bekommt so die Spreu. »Wie kommt es denn, fragt der Bär, dass es in deinem Munde brisk brask lautet, wenn du kaust, in meinem aber nur slisk slask?« »Das kommt natürlich daher, dass ich so viel Sand und kleine Steinchen in meinem Haufen habe, das knirscht so, wenn ich esse«, antwortete der Fuchs. Das entspricht dem 9. Abenteuer des finnischen Reineke-Cyklus. Felix Liebrecht äussert sich über jene, lappische Geschichte vom Fuchs und den Fischen (Germania XV, 161), »sie brauche nicht eigentlich entliehen zu sein, da sie sich ja selbst unter den Hottentotten wiederfindet«. Natürlich ist sie bei den Hottentotten ebenfalls entliehen. Sie steht bei Bleek, Reineke Fuchs in Afrika, S. 13. |
21 | Zielinski, Die Märchenkomödie in Athen. Abdruck aus dem Jahresbericht der Deutschen Schulen zu St. Annen. St. Petersburg 1885. S. 71. |
22 | Ueber den Mythengehalt der finnischen Märchen. Bulletin de la classe historico-philologique de l'Académie Impériale des Sciences de St. Pétersbourg. XII (1855) 369 ff. |
23 | Der Zug, dass die Jungfrau selbst dem Helden mit ihrem Rathe beisteht – wie in der Medeasage –, findet sich nur im Epos. |
24 | Von der der Märchendichtung überhaupt eigenen Verwendung der Dreizahl – Trigemination hat das Zielinski in der angeführten Abhandlung S. 12 genannt – bieten unsere finnischen Märchen eine so grosse Anzahl von Beispielen, wie sie sich so gehäuft schwerlich anderswo finden. Vgl. darüber schon Schiefner in der oben citirten Anzeige im Bulletin. |
25 | Mélusine. Revue de mythologie etc. dirigée par H. Gaidoz et E. Rolland. II, 66. |
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