16.
Gearoidh Jarla.

[26] Der berühmte irländische Held Gearoidh Jarla wohnte in einem prächtigen Schlosse bei Mullaghmast, von wo aus er seine Feldzüge gegen die räuberischen Engländer in's Werk setzte. Er war nicht allein ein tapferer Feldherr, sondern auch ein tüchtiger Zauberer und konnte sich in irgend eine Gestalt verwandeln.

Da seine Frau um seine Geheimnisse wußte, äußerte sie eines Tages den Wunsch, ihn einmal als Vogel zu sehen. Doch er hatte dazu keine rechte Lust und sagte zu ihr: »Wenn du dich während meiner Verzauberung nur im Geringsten fürchtest, so muß ich die betreffende Gestalt so lange behalten, bis drei Generationen im Grabe liegen.«

»Fürchten?« erwiderte sie, »nein, da müßte ich nicht die Frau von Gearoidh Tarla sein!«

Als sie nun eines Abends traulich im Zimmer beisammen saßen, lispelte er einen Zauberspruch leise vor sich hin, wonach er plötzlich vor ihren Augen verschwand. Doch bald darnach flog ihr ein wunderschöner Goldfinke auf die Schultern und sang so schön, wie sie nie zuvor gehört hatte. Dann hüpfte er in ihren Schooß und that, als schliefe er, doch als sie ihn lieb kosen wollte, flog er fort, und zwar zum offenen Fenster hinaus. Kurz darnach aber kam er wieder und hinter ihm drein ein großer Habicht. Darüber erschrak nun die Frau so sehr, daß sie laut aufschrie. Ihr Schreck war jedoch überflüssig; denn der Habicht flog mit solcher Wucht gegen eine Tischkante, daß er zerschmettert zu Boden fiel. Als sie nach dem geliebten Goldfinken sehen wollte, fand sie zu ihrem größten Leidwesen, daß er verschwunden war.

Seit dieser Zeit reitet Gearoidh Jarla alle sieben Jahre einmal durch sein Land, und wenn die einen Zoll dicken silbernen Hufeisen seines Rappen so dünn wie ein Katzenohr geworden sind, wird er wieder zur alten Macht gelangen und die Engländer aus Irland vertreiben. Seine Krieger schlafen im Berge von Mullaghmast; ihre Pferde sind gesattelt und gezäumt und wenn einstens eines Müllers Sohn mit sechs Fingern an jeder Hand geboren wird, werden sie wiehern und ihre Herren zum Kampfe erwecken.[26]

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 26-27.
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