18.
Eine Geistergeschichte.

[28] Eine alte Frau, die wegen ihrer Mildthätigkeit weit und breit berühmt war, war gestorben und ihre Verwandten hatten zu ihrem Seelenheile zahlreiche Messen lesen lassen. Doch schienen dieselben nicht viel genützt zu haben, denn eines Abends erschien ihr Geist dem Kammermädchen und wünschte unter Thränen mit ihr zu sprechen.

»Was läßt dir im Grabe keine Ruhe?« fragte sie ängstlich; »kann ich vielleicht etwas für dich thun?«

»Ich hoffe es. Jeden Tag und jede Stunde beweinen mich meine Angehörigen und loben beständig meine Wohlthätigkeit gegen die[28] Armen; Alles aber, was ich den Menschen Gutes that, geschah nur aus dem Grunde, daß sie stets gut von mir sprachen, und dies läßt mich nun nicht zur Ruhe kommen. Das einzige wirklich Edle, dessen ich mich rühmen kann, ist, daß ich einstens einem armen Studenten eine Guinee gab mit der Bemerkung, Niemanden etwas davon zu sagen. Bitte also meine Verwandten, in meinem Namen von nun an nicht mehr gut von mir zu sprechen, damit ich in der Nacht nicht mehr herum zu wandern brauche.«

Darnach verschwand der Geist. Doch das Mädchen hatte am nächsten Morgen nicht den nöthigen Muth, Mittheilung davon zu machen, und der Geist erschien in der folgenden Nacht wieder und erinnerte sie an ihren Auftrag. Aber der Geist mußte zum dritten Male kommen, ehe sie ihrem Herrn Nachricht davon gab. Nach dieser Zeit erschien er nicht mehr.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 28-29.
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