52.
Lir's Kinder.

[105] Obgleich Lir ein Halbgott war, so fehlte ihm doch die häusliche Ruhe, da er sein geliebtes Weib verloren hatte. Er suchte Trost im Reisen und kam an den Hof von Bogha Derg, dem König von Conacht, woselbst er sich mit der tugendhaften Prinzessin Anby verheiratete.

Nach einem Jahre gebar ihm diese Zwillinge, Fionulda und Aodh, und als sie zum zweiten Male niederkam und die Knaben Fiachra und Conn gebar, starb sie.

Kurze Zeit darnach kam Lir wieder an den Hof seines Schwiegervaters und nahm die Schwester seiner Frau zum Weibe, da er glaubte, sie würde seinen Kindern eine zärtliche Mutter sein. Aber da irrte er sich, denn diese ärgerte sich so sehr über die Liebe ihres Mannes zu Fionulda, daß sie während eines ganzen Jahres das Bett nicht verließ. Ein böser Druide fand endlich die wahre Ursache ihrer Krankheit[105] aus und beredete sie, ihrem Vater einen Besuch abzustatten, wobei sie die Kinder mitnehmen und unterwegs umbringen sollte.

Kurz darnach reiste sie mit denselben ab und da ihr Fuhrmann auf ihren verbrecherischen Plan nicht eingehen wollte, so war sie gezwungen, selber Hand an sie zu legen. Sie sagte ihnen also, sie sollten sich alle im nahen See baden, doch Fionulda beredete ihre Brüder, es nicht zu thun, worauf Alle durch den Druiden, der sie begleitet hatte, in Schwäne verwandelt wurden.

Als sie zu ihrem Vater kam und dieser nach seinen Enkeln fragte, sagte sie, sie seien krank; dieser aber merkte, daß etwas nicht richtig war, und berührte sie heimlich mit seinem Zauberstabe. Darauf fiel sie in tiefen Schlaf und erzählte in Gegenwart des ganzen Hofes ihre Frevelthat. Dann weckte er sie wieder auf und verwandelte sie, nachdem er ihr eine derbe Strafpredigt gehalten hatte, in einen grauen Adler, der bis in alle Ewigkeit die Luft durchsegeln sollte.

Nun gingen Alle an das Seeufer und ergötzten sich am Gesange der vier Schwäne. Bald aber flogen diese fort und flogen so nach dem Zauberspruche ihrer bösen Schwiegermutter dreihundert Jahre lang umher. Ihre menschliche Gestalt sollten sie erst dann wieder bekommen, wenn Männer mit glatten Köpfen nach Irland kämen und alle Leute daselbst ihre Tische in den östlichen Theil ihrer Häuser stellten.

Dreihundert Jahre flogen sie also zwischen Erin und Alba (Schottland) umher und als sie einst in ihrer Heimat die Messe singen hörten, erhielten sie ihre frühere Gestalt wieder und ließen sich taufen. Kurz darauf starben sie.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 105-106.
Lizenz:
Kategorien: