6.
Nora.

[10] Die Tochter der Hebamme Nora war ein unglückliches Mädchen. Länger als ein Jahr hatte sie das Bett wegen eines geschwollenen Beines gehütet und kein Doktor des ganzen Landes hatte ihr Linderung verschaffen können.

Nun kam eines Abends der König der Elfen zu ihrer Mutter und bat sie, ihm nach seinem Palaste zu folgen, wo seine Frau ihrer bedürfe. Ehe sie sich jedoch zu ihm auf's Pferd setzte, fand ihr Mann noch Zeit, sie zu warnen, ja Nichts von der Königin anzunehmen, einen Rath ausgenommen in Bezug auf ihre kranke Tochter.

Als Nora eine Zeitlang im Elfenschlosse gewesen war, wurde die Familie der Königin durch ein schönes Mädchen vergrößert.

»Du bist eine geschickte Frau,« sagte die Königin zu ihr, »und sollst deshalb das Schloß nicht leer verlassen. Geh' zuerst in das nächste Zimmer und hole dir so viele Gold- und Silbersachen, wie du nur tragen kannst.«

»Ich danke,« erwiderte sie; »wenn ich reich wäre, so würde ich nicht mehr arbeiten und nichts thun als essen und trinken, was mich nach einem Jahre auf den Kirchhof brächte.«

»Du bist eine kuriose Frau! doch setz' dich dort an den Tisch und iß und trink' nach Herzenslust!«[10]

»Ich danke; denn wenn ich so gute Sachen äße, würde mir nachher meine einfache Kost nicht mehr schmecken!«

»Aber dann nimm dir doch wenigstens dies schöne Umschlagtuch mit!«

»Wenn ich dies Tuch trüge, so würden mir alle Buben des ganzen Dorfes nachlaufen!«

»Das thut mir leid, doch womit kann ich dir eigentlich meine Dankbarkeit erzeigen?«

»Ich habe eine kranke Tochter zu Hause und weiß, daß du ihr helfen kannst, wenn du nur willst.«

»Verlange alles Andere, aber nicht Dieses; du weißt nicht, wie sehr mich deine Tochter beleidigt hat.«

»Beleidigt? Das ist unmöglich!«

»Höre. Du weißt, daß sich die Elfen ihres Lebens nur in der Nacht freuen und sich gerne in den Küchen aufhalten, die rein und blank gescheuert sind. Es ist nun schon über ein Jahr her, da kam ich mit meinem Völkchen an deiner Hütte vorbei und da mir das Aeußere derselben gefiel, so gingen wir Alle hinein und setzten uns in die Küche, die so reinlich war, daß wir gleich beschlossen, uns dort auf längere Zeit niederzulassen und Thee zu trinken. Doch kaum hatten wir unsern Thee fertig, da kam deine Tochter herein und zertrat Mehrere von uns und warf meine Tasse um. Dies ärgerte mich so, daß ich ihr mit der Theekanne auf's Bein schlug und es verwundete. Die Kanne zerbrach und ein Stück davon blieb ihr wahrscheinlich im Beine stecken.«

»Da mußt du ihr verzeihen, denn sie wußte so wenig, daß ihr da waret, als sie von der Stunde weiß, in der sie geboren ward.«

»Das glaube ich auch, und da du mir diese Nacht so große Dienste geleistet hast, so soll ihr vergeben sein. Nimm diese Salbe und reibe die wunde Stelle damit, sobald du nach Hause kommst.«

Darauf kam der Elfenkönig, um Nora abzuholen. Sie setzte sich auf sein steinhartes Pferd und war im Nu vor ihrer Hausthüre.

Das Erste, was sie that, war, daß sie ihrer Tochter das kranke Bein einrieb und als diese am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie nicht mehr die geringsten Schmerzen und war so gesund wie ein Fisch im Wasser. Aber in die Küche ging sie Nachts nicht mehr seit dieser Zeit.[11]

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 10-12.
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