CXXVI. Geschnitten oder Geschoren.

[450] Árn. S. 536.


Zwei alte Weiber kommen an einem frischgemähten Grasflecken vorbei. »Das nenne ich schön geschoren«, sagt die erste. »Das ist geschnitten«, erklärt die andere. »Was bist du doch für ein Narr, das ist geschoren!« »Das ist nicht geschoren, das ist geschnitten!« – – – Jede bleibt bei ihrer Meinung, der Zank wird zwischen den beiden immer heftiger, schliesslich fahren sie aufeinander los und raufen miteinander. In der Hitze des Gefechts sehen sie nicht, dass sie am Rande eines Teiches sich befinden. Sie stürzen hinein, und schliesslich sind ihre Finger nur noch aus dem Wasser sichtbar. Aber auch jetzt noch macht die eine Alte mit den Fingern die Scherenbewegung, um bis zum Tode auf ihrer Meinung zu beharren. – Darum sagt man wohl zu einem halsstarrigen Menschen: »Geschnitten oder geschoren, sagten die beiden alten Weiber. Und so geht's auch mit dir!«

In Paulis »Schimpf und Ernst« (Nr. 595 S. 332) spielt ein ähnlicher Schwank zwischen einem Ehepaare. Die zärtliche Gattin nennt ihren Mann im Zorne stets einen Läuseknicker, und so oft er ihr auch diesen Ausdruck verbietet, kommt sie doch immer wieder mit ihm hervor. Schliesslich wird er wütend und wirft sie im Garten in den Weiher. Wie sie schon am Ertrinken ist und folglich nicht mehr reden kann, streckt sie die Arme aus dem Wasser, drückt beide Daumen aneinander und tut, als wenn sie Läuse knicken wolle.

Ein wenig anders wird dieser Schwank von Liebrecht in seinen Anmerkungen zum Pentamerone erzählt (II S. 264). Er knüpft hier an eine im Italienischen sprichwörtliche Redensart an: »Die Schere machen«, welcher Ausdruck so viel wie »unaufhörlich schwatzen« bedeutet: Ein Mann hat eine unverbesserliche Schwätzerin zur Frau. Schliesslich kann er es[450] nicht mehr aushalten und droht ihr, sie im Brunnen zu ertränken, wenn sie nicht still wäre. Er lässt sie auch tatsächlich an einem Stricke langsam in den Brunnen hinunter, immer in der Hoffnung, dass die Frau still werden würde. Doch unaufhörlich ruft sie: »Ich will immer Schere, Schere machen.« Endlich ist sie ganz unter Wasser und kann den Mund nicht mehr öffnen. Gleichwohl hebt sie noch die Hand heraus und macht mit den Fingern die Bewegung des Schneidens. Da der Mann sieht, dass die Frau unverbesserlich ist, zieht er sie wieder heraus und lebt künftig mit ihr im Frieden.

Bei Dunlop gibt Liebrecht viele Nachweise zu diesem Schwanke (S. 516), der in der Literatur schon im Altfranzösischen in einem Fabliau (du Pré tondu) behandelt ist. Das isländische Geschichtchen scheint in dem Zank über die geschnittene oder geschorene Wiese die ursprüngliche Form der Erzählung treuer bewahrt zu haben wie Pauli oder die italienische Erzählung bei Liebrecht. Die handelnden Personen sind jedoch in allen übrigen Ländern ein Ehepaar, nur im Isländischen, wo die Kampflust der Vorfahren in einer grossen Disputierlust fortlebt, sind es bezeichnenderweise zwei Personen vom gleichen Geschlechte.

Auch Benf. gibt in der Pantschatantra (I S. 523) Nachweise zu diesem Schwanke, ebenso auch Oesterley in seinen Anmerkungen zu Pauli, ferner Köhler-Bolte in den Anmerkungen zu Bladé (Kl. Schr. S. 136).

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 450-451.
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