XXII. Finna, die Voraussichtige.

[85] Árn. II. 383–6. Nach Nr. 602 c. 4 Papiermanuskript in der Arnamagnæana.


Þrándur lögmaður hatte eine Tochter, namens Finna, die ebenso schön wie klug war, und von der auch das Gerede ging, sie könne die Zukunft voraussehen. Wie ihr Vater einst zum Thing ritt, sagte sie ihm, er solle unterwegs sie niemandem zum Weibe geloben, es sei denn, dass er dadurch allein sein Leben retten könne. Auf dem Heimwege wird Þrándur von einem Reiter, der sich Geir nennt, angehalten und mit dem Tode bedroht, wenn er ihm nicht seine Tochter Finna geben würde. Der Alte gibt ihm darauf das geforderte Versprechen. – Finna weiss, wie der Vater heimkehrt, dass ihre Ahnung sich bestätigt hat. Nach der verabredeten Zeit kommt Geir, um die Braut zu holen. Diese ist auch bereit und bedingt sich zur Begleitung allein ihren Bruder Sigurður aus.[85] Wie die Drei eine Weile geritten sind, kommen sie an einem eingezäunten Gehege vorbei, in dem Rinder sich befinden. Auf die Frage der Braut nach dem Besitzer erwidert Geir, dass ihnen beiden die Tiere gehörten. Am zweiten Tage kommen sie an einem Gehege voll Schafen, und am dritten Tage an einem Gehege voll Pferden vorbei. Finna erhält auf ihre Frage stets die gleiche Antwort. Am Abend des dritten Tages gelangen sie zu einem grossen Gehöft, und nach Angabe Geirs sind sie nun zu Hause. Finna arbeitet sich schnell in ihren neuen Pflichtenkreis hinein, doch ihr Mann bekümmert sich nur wenig um sie. Am Tage vor Weihnachten, als Geir der Kopf gewaschen werden soll, ist er verschwunden, und auf Befragen erfährt seine Frau, dass er schon seit langer Zeit nie Weihnachten zu Hause gewesen sei. Finna verbietet, ihn zu suchen und bereitet in Ruhe das Festmahl. Sowie nach demselben alle Bewohner eingeschlafen sind, erhebt sie sich, ruft ihren Bruder und rudert mit ihm zu einer benachbarten Insel. Sigurður muss hier das Boot bewachen, während Finna landeinwärts geht, bis sie zu einem kleinen Hause kommt. Drinnen brennt Licht, und die Tür steht halb offen. Geir liegt in einem schön geschmückten Bette und hat eine fremde Frau im Arme. Finna geht hinein, setzt sich unten an den Bettpfosten, spricht eine Klageweise und wandert dann wieder zu ihrem Bruder zurück. Mit ihm fährt sie heimwärts, legt ihm aber über diesen nächtlichen Ausflug strengstens Stillschweigen auf. – Als nach einigen Tagen Finna in ihr eheliches Schlafgemach kommt, ist dort Geir, und in dem Bette liegt ein kleines Kind. Er fragt sie, wem das Kind gehöre, und sie antwortet, es gehöre ihnen beiden. Darauf nimmt sie es und lässt es von der Pflegemutter ihres Mannes aufziehen. Im zweiten Jahre vergeht Weihnachten auf die gleiche Weise. Als das dritte Mal Sigurður mit der Schwester in der Weihnachtsnacht zur Insel fährt, bittet er, sie begleiten zu dürfen. Sie erlaubt es ihm unter der Bedingung, dass er kein Wort redet. Wie sie unten am Bettpfosten sitzt, spricht sie folgende Klageweise:


»Hér sit jeg ein á stokki,

af mér er gleðinnar þokki,

tapað hefir seggurinn svinni

sumarlangt gleðinni minni,

önnur hlaut þann er jeg unna;

opt fellur sjór yfir hlunna.«


»Hier sitze ich allein auf dem Pfosten,

Von mir ging die Stimmung der Freude,[86]

Getötet hat der kluge Mann

Den Sommer hindurch meine Freude,

Eine andere gewann den, den ich liebe,

Oft rollt die See über die Schiffsstützen.«


Geir hört ihre Klagerede, springt auf und sagt »das soll nicht länger so sein«. Die Frau, die bei ihm liegt, fällt in Ohnmacht, und wie sie erwacht, ist sie ein wunderschönes Mädchen. Geir erzählt nun seiner Frau, dass sie durch ihre Klugheit ihn aus einem schweren Zauber erlöst habe. Sein Vater sei der König von Garðarík (Russland) gewesen und habe in zweiter Ehe eine Unholdin geheiratet. Diese habe auf ihn und seine Schwester den Fluch gelegt, sie müssten miteinander drei Kinder bekommen. Wenn die Frau des Geir dies alles wüsste und es doch schweigend duldete, dann könnten sie erlöst werden. Andernfalls solle Geir für immer zur Schlange, seine Schwester jedoch zum ungezähmten Füllen werden. – – – Sigurður heiratet die Königstochter und zieht mit ihr nach Garðarík, während Geir nach seinem Schwiegervater das Amt des Gesetzessprechers übernimmt.

Dieses Märchen, das ich sonst in keiner anderen Märchensammlung nachweisen kann, hat in all seinen einzelnen Zügen ein entschieden isländisches Gepräge. Es ist auch nicht, wie sonst die Märchen, an unbestimmte Repräsentanten irgend eines Standes geknüpft, sondern es verbindet sich mit einer genauer bezeichneten Persönlichkeit, wäre in dieser Beziehung also eher als Sage wie als Märchen aufzufassen. – – – Der Name Finna, der uns sonst in keinem andern isländischen Märchen oder einer Sage begegnet, soll wohl die ausserordentliche Klugheit des Mädchens andeuten, das die Zukunft vorauszusehen vermag. Die männliche Form des Namens »Finnur«, die heute in Island sonst sehr gebräuchlich ist, findet sich bei Árn. nur noch für einen Zauberer und einen Elben verwandt.

Die Frage nach dem Besitzer der verschiedenen Herden und die stets gleiche Antwort findet sich auch noch in dem Märchen »Hábogi«, sowie in den von Árn. zu den Utilegumannasögur gerechneten Märchen von »Sigriður Eyafjarðarsól«.[87] Ähnlich fragt im »König Drosselbart« (Grimm 52, I. S. 191 ff.) die Prinzessin ihren Mann, als sie an einem Wald, einer Wiese etc. vorbeikommen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 85-88.
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