|
[106] Árn. II S. 306–12. Nach einer Erzählung aus Lundareykjadal.
Ein König, Namens Máni, hat eine wunderschöne Tochter, die Mjaðveig genannt ist. Nach dem Tode seiner Königin sind seine Minister auf die Brautschau gegangen und haben ihm eine schöne Frau nebst ihrer Tochter mitgebracht. Wie der König einst fortgefahren ist, fordert die Stiefmutter Mjaðveig auf, mit ihr und der Tochter einen Spaziergang in den Wald zu machen. Dort muss die Königstochter mit ihrer Stiefschwester die Kleider wechseln, und die Königin spricht einen Zauberspruch, so dass ihre Tochter Gestalt und Aussehen der Prinzessin erhält. Mjaðveig bindet sie aber an Händen und Füssen und lässt sie im Walde den wilden Tieren zum Frasse. Erschöpft von Tränen und Hunger fällt die Königstochter schliesslich in Schlaf. Im Traume erscheint ihr die verstorbene Mutter, löst ihr die Fesseln und legt ein Tuch neben sie, das immer, wenn man sich es wünscht, mit Speisen bedeckt wird. Nach einiger Zeit geht die Tochter der Königin in den Wald, um zu sehen, ob Mjaðveig noch lebt. Sie schmeichelt sich heuchlerisch an sie heran, und wie sie das Zaubertuch entdeckt hat, entreisst sie es ihr und läuft hohnlachend fort. Auf den Bat der verstorbenen Mutter geht Mjaðveig nun zum Seestrande und findet behaglichen Aufenthalt in einem kleinen Häuschen, von dem die Mutter im Traume sagt:
»Þar gala gaukar,
Þar spretta laukar,
Og þar fara hrútar úr reifi sínu.«
»Dort singen Vögel,
Dort spriesst Grünes,
Und dort verlieren Widder ihre Wolle.«
(sc. weil sie so fett sind.)
Wie sie eines Tages am Meere spazieren geht, sieht sie eine grosse Schiffsflotte nicht weit vom Lande. Erschrocken läuft sie in ihr Häuschen zurück, verliert jedoch bei der eiligen Flucht einen ihrer kleinen Goldschuhe. Ein Königssohn, der als Freier um Mjaðveig Mánadóttir gekommen ist, findet den Schuh und tut das Gelübde, nur die Eigentümerin des Schuhes heiraten zu wollen. Nun geht er zum Schlosse. Hier teilt er der Königin seinen Schwur mit. Diese behauptet, der Schuh gehöre ihrer Tochter und geht nun mit ihm zu derselben. Da[107] der Schuh um die Hälfte zu klein ist, schlägt sie der Tochter Zehen und Hacken ab und führt dann die Braut mit dem Schuh am Fusse zum Königssohn. Nun segelt dieser mit der Braut in seine Heimat zurück. Wie er an dem Häuschen der Mjaðveig vorbeikommt, sind Vögel am Singen. Und da er die Vogelsprache versteht, so hört er folgendes Lied:
»I stafni situr
Höggvinhæla,
fullur skór með blóð;
Hér á landi er Mjaðveig
Mánadóttir,
miklu betra
brúðarefni.
Snúðu aptur, kongsson.«
»Im Steven sitzt
die Absatzgehackte,
voll ist ihr Schuh vorn Blute.
Hier am Lande ist Mjaðveig
die Tochter des Máni,
eine viel bessere
Braut zur Ehe.
Kehr' du um, Königssohn.«
Misstrauisch sieht er nach seiner Braut und bemerkt, dass das Lied der Vögel wahr ist. Nun hält er ihr über die Schultern einen Zauberstab, sie wird sogleich zur furchtbaren Unholdin, und muss alles gestehen. Darauf lässt er sie töten und mit ihrem Fleisch in Salz gelegt zwölf Tonnen füllen. Wie er dann zu dem Häuschen ans Land fährt, trifft er dort die wahre Königstochter, der der Schuh wie angegossen passt, und die er nun als Braut mit sich nimmt. Nach einer Weile kehrt er ins Königreich zurück und bittet König Máni und seine Gattin zum Hochzeitsfest, auf der Seefahrt aber lässt er die Königin ihre eigene Tochter als Salzfleisch verspeisen. Während der Mahlzeit, die sie auf einem Schiffe allein für sich einnimmt, wird sie jedesmal zur furchtbaren Riesin. In dieser wahren Gestalt zeigt der Königssohn sie ihrem Gatten, dann lässt er durch Pulver das Schiff mit der Unholdin in die Luft sprengen. Er heiratet hierauf Mjaðveig und wird nach dem Tode seines Vaters König. – – Einst, nachdem dem jungen Paare schon ein Sohn geboren war, ist Mjaðveig allein draussen, um ein Bad zu nehmen. Auf die Bitte einer herankommenden Frau tauscht sie mit ihr die Kleider. Sofort legt die Unbekannte ihr auf, dass sie zu ihrem Bruder gehen müsse, während sie selbst Antlitz und Gestalt der Königin annimmt. – Nachdem die Königin aus dem Bade heimgekehrt ist, zeigt sich mit ihr eine seltsame Veränderung. Sie ist rauh und unfreundlich gegen ihre Umgebung, ihr kleiner Sohn hört in ihrer Nähe[108] nicht auf zu schreien, und in dem Zauberhäuschen, das für Mjaðveig einst aus der Heimat mitgenommen war, singen keine Vögel mehr und spriessen nicht mehr die Blumen. – – Als eines Tages der Hirte des Königs am Seestrande ist, sieht er einen Glassaal auftauchen, der an einer Eisenkette befestigt ist und von einem Riesen gehalten wird. Drinnen in dem Saale glaubt er die Königin Mjaðveig zu erkennen. Dann verschwindet alles. – – Nach einer Weile kommt ein Kind, um von einem Bache Wasser zu holen. Er gibt diesem einen Goldring. Gleich darauf kommt der Vater des Kindes, ein Zwerg, um sich für die Gabe zu bedanken. Von ihm hört er das Unglück der Königin, und dass sie für immer dem Riesen anheim gegeben sei, wenn nicht das nächstemal die Eisenkette durchhauen werde. Dem Hirten glückt dieses am nächsten Tage. Wie der Riese ihn darauf töten will, streut der Zwerg ihm etwas in die Augen, so dass er blind wird, den Felsen hinunterstürzt und das Genick bricht. Mjaðveig kehrt heim, und die falsche Königin wird getötet.
Eine Variante dieses Märchens bildet das bei Árnason (II S. 312–15) folgende Märchen, nach der Aufzeichnung eines Pfarrers Sveinbjörn Guðmundsson wiedergegeben. Hier wird erzählt, dass der König schon bald nach der Heirat merkt, welche Bosheit und Tücke in seiner zweiten Frau steckt, und auch Mjaðveig hat daheim von ihrer Stiefschwester Króka viel zu leiden. Die verstorbene Mutter gibt ihr zuerst ein Tuch, das sie vor jeder Verfolgung schützt. Wie ihr dies von Króka weggerissen wird, bekommt Mjaðveig ein Knäuel, das vor ihr herläuft und ihr den Weg zu einem kleinen Hause zeigt, in dem sie nun von Stiefmutter und Stiefschwester unbemerkt leben kann. Auf dem Wege dorthin hat sie ihren Goldschuh verloren, und nun legt sie das Gelübde ab, den Finder dieses Schuhs heiraten zu wollen. Die weitere Entwickelung ist auch hier, wie im vorhergehenden Märchen, nur wird Króka verbrannt und in Grütze ihrer Mutter zu essen gegeben. Das Märchen schliesst mit der Heirat Mjaðveigs und weiss nichts von weiteren trüben Schicksalen der Königstochter.
Eine zweite Variante des Märchens vom »verlorenen Goldschuh« findet sich bei Maurer (S. 281/2). Sie ist dem[109] Verfasser von einer Frau Brynjúlfsson in Kopenhagen erzählt worden, die sich freilich des Schlusses nicht mehr entsann. Hiernach hat die Stiefmutter zwei hässliche Töchter. Als der Königssohn mit dem gefundenen Goldschuh kommt, lässt die Mutter einer ihrer Töchter den Absatz abhacken, um den Schuh passend zu bekommen. Auch hier machen Vögel bei der Seefahrt den Freier mit einem ähnlichen Spruche auf den Betrug aufmerksam. – –
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro